Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! Jerome Klapka Jerome Mit seiner Schilderung einer vertrackten Bootsfahrt auf der Themse schuf Jerome K. Jerome 1889 einen der beliebtesten Klassiker britischen Humors. Sein scharfer, wenn auch wohlwollender Blick entlarvt die Tücken einer Freizeitkultur, die sich noch heute – etwa unter dem Namen «Camping» – größter Beliebtheit erfreut. Eine Bootsfahrt auf der Themse – zu Zeiten von Königin Viktoria der Inbegriff des Ferienglücks. Auch die drei Freunde George, Harris und J. rudern auf der Suche nach Natur und Erholung zwölf Tage lang flussaufwärts: von Kingston nach Maidenhead, Marlow, Dorchester, Reading und Oxford – und dabei von einer Panne zur nächsten. Gemeinsam mit Hund Montgomery kämpfen sie einen sympathischen, wenn auch hoffnungslosen Kampf gegen die Tücken des Objekts. Ein Sturz ins kalte Wasser kann die Freunde nicht aus der Fassung bringen, und auch alle übrigen Missgeschicke, trocken serviert von Erzähler J., wissen sie mit Stil und Witz zu ertragen. Die Gentlemen trösten sich mit der reizvollen Atmosphäre der Themsestädtchen (und in deren Kneipen), bis der Regen sie vorzeitig in die Zivilisation Londons zurücktreibt. Jerome K. Jerome (1859–1927) sah sich als echter Humorist für die Unzulänglichkeiten des Daseins ebenso zuständig wie für Kritik an den Zeitumständen. Hierzulande erlangte sein Buch in den sechziger Jahren große Popularität, als die Bootsfahrt – verlegt in die damalige Bundesrepublik – mit Heinz Erhardt, Walter Giller und Hans-Joachim Kulenkampff verfilmt wurde. Einleitung Wenn man den Lesern einen Schriftsteller förmlich vorstellt, so wollen sie allemal ganz genau wissen, wen sie vor sich haben; namentlich wenn's ein Ausländer ist. Da wäre denn zunächst zu verzeichnen, daß Jerome Klapka Jerome am 2. Mai 1859 in Walsall geboren ist, einer richtigen englischen Fabrikstadt, und zwar in einem Pfarrhause. Das ist schon sehr absonderlich für einen Humoristen. Rauchende Fabrikschlote und Frömmigkeit von Berufs wegen sind eigentlich nicht die Umgebung, die der Entwicklung von Humor förderlich sind. Ohne Zweifel hat der junge Jerome weder für das eine noch für das andere viel Neigung verspürt. Denn er begann beizeiten seinen Beruf zu verfehlen. Kaum aus der Schule heraus, war er Angestellter in einem Geschäft. Darauf versuchte er sich als Schulmeister. Danach wurde er Schauspieler und Journalist, um dann endlich den Sprung zur Literatur zu wagen. Mit 27 Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch, das nicht viel Beachtung fand. Das ging noch einigen andern Büchern so. Erst sein Buch: »On the stage and off« (Auf der Bühne und außerhalb) aus dem Jahre 1888, worin er seine Bühnenerfahrungen verwertete, trug ihm einigen Erfolg ein. Ihm folgte im Jahre darauf mit steigendem Erfolg ›Idle thoughts of an idle fellow‹ (Müßige Gedanken eines müßigen Menschen) und im Jahre 1889 ›Three men in a boat‹, das der erste ›Schlager‹ war; um ein Lieblingswort aus dem Bühnen-Deutsch zu gebrauchen. In den neunziger Jahren entfaltete er zugleich eine außerordentlich rege Redaktionstätigkeit an den bekannten Blättern ›The Idler‹ und ›To-day‹. Nach dem großen Erfolge von ›Three men in a boat‹ sprudelte sein literarischer Quell mit erstaunlicher Ergiebigkeit. Buch auf Buch folgte, ohne daß eins davon den Erfolg des vorliegenden Buches zu erreichen vermochte. Viel gelesen wurde noch eine Art Seitenstück zu ›Three men in a boat‹, das den Titel führt ›Three men on a bummel‹. Jerome schildert hierin eine lustige Fahrt durch Deutschland und hat dafür das deutsche Wort ›Bummel‹ in die englische Sprache aufgenommen, um die sorglos-gemütlich genießende Art des Reisens zu kennzeichnen. In den letzten Jahren hat sich Jerome auch der Bühne zugewandt. Auch hier ist ihm ein großer Erfolg beschieden gewesen und zwar, seltsam genug, mit einem ernsten Stück, das den Titel ›The passing of the third floor back‹ führt; entstanden ist es im Jahre 1907. Es schildert die Wandlung und Besserung einer Anzahl von moralisch wertlosen Menschen, die ein Pensionat im dritten Stockwerk eines Hauses nach hinten heraus bewohnen. Ihre geistige Wandlung vollzieht sich durch den Einfluß eines fremden Gastes von hoher sittlicher Kraft, der zuletzt Christuszüge erhält und als Christus aufgefaßt werden kann. Die meisten Leute sind sehr erstaunt, wenn ein Humorist auch mal ein ernstes Gesicht macht. Allzu viele verbinden mit dem Begriff Humorist gern den Begriff Clown oder Spaßmacher um jeden Preis. Aber sie vergessen, daß der echte Humor doch schließlich aus dem Gemüt wächst und daß man als das Merkmal des echten Humoristen die Gabe betrachtet, unter Tränen lachen zu können. Ich erinnere daran, welche feinen, weichen und erschütternden Herzenstöne einem Reuter und einem Dickens zu Gebote standen – zwei so echte und große Humoristen, wie sie die Welt je gesehen hat. Es scheint sogar, daß der Humorist ein geradezu unwiderstehliches Verlangen hat, gelegentlich ganz ernsthaft zu sein, wie wenn er zeitweilig seiner selbst überdrüssig wäre. Immer ernsthaft zu sein ist jedenfalls leichter als immer scherzhaft zu sein. Der immer Ernsthafte mag manchmal langweilig wirken, der immer Scherzhafte wird aber sicher oft unausstehlich werden. Das hat wohl auch Jerome gefühlt. Er hat ernsthafte Geschichten geschrieben, die mit zu dem Allerbesten in ihrer Gattung gehören, die aber nur von den Kennern geschätzt werden. Die große Masse geht an ihnen vorüber, weil Jerome nun einmal als Humorist abgestempelt ist. Das ist die Tragik des Humoristen. In diesen Schöpfungen gehören die Geschichte von »Paul Kelver« sowie die drei Geschichten »John Ingerfield«, »The Woman of the Saeter« und »Silhouettes« in dem Buche »John Ingerfield and other stories«. Jerome selber hat diese Tragik des Humoristen oft genug zu kosten bekommen und macht daher den Leser in einem Vorwort zu einem Neudruck des letztgenannten Buches eigens darauf aufmerksam, daß die drei erwähnten Geschichten nicht humoristisch seien. Er erzählt dabei, wie er einmal eine ernste Geschichte von einer Frau geschrieben habe, die von einer Riesenschlange zermalmt wurde. Am Tage nach der Veröffentlichung traf er einen Freund, der zu ihm sagte: »Reizende kleine Geschichte – die von der Frau und der Riesenschlange; aber sie ist nicht so komisch wie Ihre andern Geschichten!« So geht's einem Schriftsteller, der in dem Geruch steht, humoristisch zu sein. Mark Twain wollte einmal in einer Mädchenschule ein ernstes Gedicht vorlesen, mußte aber damit aufhören, weil die Mädchen nicht aus dem Lachen herauskamen. Und gerade bei den unschuldigen Kindern hatte er geglaubt auf Verständnis rechnen zu können. Ich selbst erinnere mich einer Beerdigung, wo die Leidtragenden in die peinlichste Verlegenheit gerieten, weil ein bekannter Humorist eine Grabrede hielt, die bei ihm wie das Gegenteil wirkte. Wenn einer den Namen Jerome ausspricht, so wird er sicherlich sofort zu hören bekommen: »Ach – der Verfasser von ›Drei Mann in einem Boot‹! Kenne ich! Ganz famos!« Und wirklich – dieses Buch ist es, das Jeromes Namen zu einem Weltnamen gemacht hat. Es gehört zu den meistgelesenen Büchern der Weltliteratur. Auf den ersten Blick erscheint das nicht leicht verständlich. Ein an sich harmloseres – oder ich will sagen unschuldigeres – Buch ist nie geschrieben worden. Was ist sein Inhalt? Ja, das eben ist die größte Schwierigkeit: der Inhalt! Genau genommen hat es gar keinen. Jerome selber sowie seine Freunde George und Harris fassen eines Tages den Entschluß, ein Boot zu mieten und mit dem Hund, der auf den lachhaft pompösen Namen Montmorency hört, einen vierzehntägigen Ausflug die Themse hinauf zu machen, weil sie eine Erholung bitter nötig hatten. Sie führen den Entschluß aus und kehren nach einiger Zeit wieder nach London zurück. Das ist der ganze Inhalt! Ist etwas Dürftigeres denkbar? Aber nach dem Inhalt darf man nicht fragen. Nicht das Was, sondern das Wie ist hier die Hauptsache. Der Reiz des Buches liegt in den drolligen Abenteuern, die die drei während ihrer Fahrt erleben, und in dem Humor, mit dem diese Abenteuer geschildert werden. Man wird gelegentlich etwas an den seligen Stinde und seine Familie Buchholz erinnert oder an die Humoresken von Busch; manchmal wieder leuchtet Dickensscher oder Reuterscher Humor auf – von jener Art, die in einem leisen schalkhaften Lächeln um die Mundwinkel herum oder in einem spitzbübischen Augenzwinkern so viel auszudrücken weiß. Doch das muß jeder selber lesen. Zwischendurch ziehen sich zahllose heitere Anekdoten, von denen Jerome ein unendliches Lager besitzt. Auch Mark Twain war bekanntlich ein glänzender Anekdoten-Erzähler. Aber Jerome will zugleich belehren. Daher versäumt er nicht, wo immer sie in ihrem Boot an historischen Stätten vorüberkommen, Vorgänge von Wichtigkeit aus der englischen Geschichte in Erinnerung zu bringen – freilich immer in seiner besonderen drolligen Weise, nicht lehrhaft trocken. So ergibt sich alles in allem ein Buch von ganz eigenem Charakter: ein liebliches Sommeridyll, farbig und fesselnd und von echt englischem gemütlichen Humor verklärt. Von Humoristen heißt es gewöhnlich, sie seien auch persönlich die angenehmsten Leute – was ernstere Schriftsteller nicht immer sind; manche von diesen nehmen sich allzu ernst. Auf Jerome trifft diese Ansicht sicherlich zu. Jeder, der ihn einmal persönlich kennen gelernt hat, schildert ihn als einen »famosen Kerl« – oder wie der Engländer sagt: »a jolly good fellow«. Er wohnt in einem romantischen alten Haus in Wallingford an der Themse, mit Frau und zwei Töchtern; eine davon ist adoptiert. Es ist das denkbar glücklichste Familienleben, von jener ungezwungenen herzlichen Natürlichkeit des Verkehrs, wie sie so oft in guten amerikanischen Familien zu finden ist. Und diese Gastlichkeit! Im Sommer zumal sind oft ein halb Dutzend Kameraden von der Feder bei ihm zu Gast und essen, trinken und dichten in seinem Hause, wie wenn es ihr eigenes wäre. Immer ist er der liebenswürdigste Mensch, dessen Augen in einem sonnigen Lächeln erstrahlen, wenn man mit ihm spricht. Seine ganze Persönlichkeit ist Gesundheit – außen und innen; außen kenntlich durch die frische Farbe des wohlwollenden, glatten Schauspielergesichts, innen durch die Fröhlichkeit und Natürlichkeit seiner Lebensanschauungen. Jerome, der Mensch, und Jerome, der Schriftsteller, sind ein harmonisches Ganzes: ein Optimist, ein heiterer Lebensbejaher ohne Schminke, ohne Pose. Henry F. Urban Wir waren unsrer viere – Georg William, Samuel Harris, meine Wenigkeit und Montmorency – und saßen zusammen in meiner Wohnung, rauchten Zigarren und Pfeifen, und unterhielten uns von der Verderbtheit unserer Naturen – Verderbtheit in gesundheitlicher Beziehung meine ich natürlich. Wir fühlten uns allesamt mit Übeln behaftet, was uns entschieden in eine nervöse Aufregung versetzte. Harris sagte, er bekomme öfters solche außerordentliche Schwindelanfälle, daß er kaum mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe; dann sagte Georg, auch er habe Schwindelanfälle, daß er kaum mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe. Bei mir war es die Leber, die nicht in Ordnung war. Ich war sicher, daß meine Leber nicht in Ordnung wäre, da ich gerade vorher ein Zirkular über patentierte Leberpillen gelesen hatte, worin die verschiedenen Symptome ganz genau angegeben waren, an denen man ganz sicher erkennen konnte, ob die Leber in Ordnung sei oder nicht. Alle diese Symptome zeigten sich bei mir. Es ist wirklich äußerst merkwürdig, daß ich niemals die Ankündigung irgendeines patentierten ärztlichen Mittels habe lesen können, ohne sofort zu der Überzeugung zu gelangen, ich leide in hohem Grade an dem besonderen Übel, wofür in dem angekündigten Mittel die Heilung angeboten wurde. Die Diagnose scheint in jedem Fall mit meinen spezifischen Empfindungen übereinzustimmen. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages ins Britische Museum gegangen war, um dort die Behandlung eines leichten Übels – ich glaube, es war Heuschnupfen – nachzulesen. Ich holte mir das betreffende Buch herunter und las alles, was darüber zu lesen war; dann wandte ich gedankenlos und nachlässig das Blatt um und begann gleichgültig andere Krankheiten zu studieren. Ich habe vergessen, welche Krankheit mir zuerst aufstieß; ich weiß nur noch, daß es eine fürchterliche, pestartige Krankheit war; und ehe ich auch nur die Hälfte der allgemeinen Kennzeichen gelesen hatte, war ich schon überzeugt, daß ich davon befallen sei. Ich saß eine Weile völlig erstarrt vor Schrecken; dann las ich in stiller Verzweiflung die folgenden Seiten. Ich kam zum Typhus, las seine Merkmale, und nahm sofort wahr, daß ich das Nervenfieber habe, daß ich es bereits seit Monden haben müsse, ohne eine Ahnung davon gehabt zu haben. Ich war nun in der Tat neugierig, was mir wohl sonst noch fehlen möchte; so kam ich zum Veitstanz; wie ich nicht anders erwartet hatte, hatte ich den auch. Jetzt interessierte mich mein ganz eigentümlicher Fall, und ich beschloß nun, ihn bis auf den Grund zu untersuchen. So nahm ich denn die verschiedenen Krankheiten in alphabetischer Reihenfolge durch und fand, bei A anfangend, Agne (kaltes Fieber) und machte die Bemerkung, daß ich auch daran leide, und daß die Krisis in etwa 14 Tagen eintreten werde. Die Brightsche Krankheit hatte ich, zu meiner großen Erleichterung, nur in schwachem Grade, und in betreff dieser hätte ich noch manches Jahr leben können. Cholera dagegen hatte ich schon mit ernsteren Komplikationen, und Diphtheritis war mir, wie es schien, angeboren. Gewissenhaft drang ich bis ans Ende der 26 Buchstaben, und die einzige Krankheit, von welcher ich annehmen konnte, verschont zu sein, war Kindbettfieber. Darüber war ich nun anfangs etwas verletzt; es schien mir dies eine Vernachlässigung! Warum hatte ich nicht auch Kindbettfieber? Nach einer Weile jedoch überkamen mich weniger streitbare Gefühle! In Erwägung, daß ich doch jede andere bekannte Krankheit hatte, wurde ich weniger selbstsüchtig in betreff des Kindbettfiebers und beschloß, darauf zu verzichten! Die Gicht auch, in ihrem bösartigsten Auftreten, hatte mich unbewußt in Beschlag genommen, und an Zymosis hatte ich seit meiner Knabenzeit gelitten! Da nach Zymosis keine weiteren Krankheiten mehr angeführt waren, so schloß ich daraus, daß ich nun auch mit keiner weiteren behaftet sei. So saß ich denn eine gute Weile und dachte nach. Ich fand, was für ein interessanter Fall ich in ärztlicher Hinsicht jedenfalls sein müsse und welch eine Akquisition ich z. B. für die Untersuchung in einer Klinik abgeben würde. Die Studenten würden nun nicht mehr nötig haben, zu ihrer Belehrung von einem Spital in das andere zu laufen, wenn sie mich hatten. Ich war ein ganzes Spital – ich ganz allein. Alles, was sie fernerhin zu tun haben würden, wäre, mich anzusehen und nachher ihr Examen zu machen. Dann interessierte es mich, zu erfahren, wie lange ich überhaupt noch zu leben haben würde. Ich fühlte meinen Puls – zuerst konnte ich gar keinen Puls bei mir finden. Dann schien er plötzlich mit Schlagen anzufangen. Ich zog meine Uhr heraus und zählte. Er machte 147 Schläge in der Minute! Dann wollte ich den Herzschlag prüfen; ich fand mein Herz nicht! Es hatte aufgehört zu schlagen! Ich bin seither zu der Ansicht gekommen, daß ich damals doch wohl ein Herz besessen haben muß, welches schlug – aber ich kann nicht dafür einstehen. Ich befühlte meine ganze Vorderseite von dem Teil an, den man züchtig »Taille« nennt, bis zum Kopf, strich an den Seiten und außerdem ein Stück den Rücken hinauf, aber ich konnte nichts von einem Herzen weder fühlen noch hören. Dann versuchte ich, meine Zunge zu besehen, streckte sie heraus, soweit ich konnte, und machte, um schärfer zu sehen, ein Auge zu. Ich konnte nur die Spitze sehen, und das einzige, was ich aus dieser Untersuchung mit Gewißheit schöpfte, war, daß ich das Scharlachfieber hatte. Als gesunder, glücklicher Mann hatte ich dieses Lesezimmer betreten, als ein elender, gebrochener Patient kam ich wieder heraus. Ich beschloß zu meinem Arzte zu gehen. Er ist ein alter Kamerad von mir; er pflegt mir den Puls zu fühlen, die Zunge zu besehen und mit mir vom Wetter und andern Allotrias zu sprechen, wenn ich zu ihm komme und meiner Einbildung nach krank bin, und das alles ganz umsonst. So dachte ich denn: diesmal, Alter, will ich dir auch einen Gefallen tun und dich heimsuchen. Was ein Arzt braucht, sagte ich mir, das ist Schulung. Er soll mich haben. An mir allein wird er so viel Erfahrungen machen können wie an siebzehnhundert gewöhnlichen Patienten, die nur eine oder höchstens zwei Krankheiten haben. So ging ich denn geradenwegs zu ihm. Als er mich sah, fragte er: »Nun, was fehlt dir diesmal?« worauf ich ihm erwiderte: »O, ich will dir deine Zeit nicht stehlen, alter Junge, mit Aufzählung all der Übel, mit denen ich behaftet bin. Das Leben ist kurz, und du könntest sterben, ehe ich mit der Aufzählung zu Ende wäre. Aber ich will dir sagen, was ich nicht habe! Das Kindbettfieber habe ich nicht! Warum ich diese Krankheit nicht bekommen habe, das kann ich dir nicht sagen – aber es ist nun einmal Tatsache, daß ich sie nicht habe, nie gehabt habe. Aber jede andere Krankheit habe ich.« Dann erzählte ich ihm, wie ich zu der Entdeckung gelangt sei. Da hieß er mich den Mund öffnen und sah mir in den Hals hinab; dann packte er mich beim Handgelenk und schlug mir auf die Brust, als ich es am allerwenigsten erwartete – eine recht feige, hinterlistige Art nenne ich das einem Todkranken gegenüber –, dann stieß er seinen Kopf gegen meine Rippen. Hierauf setzte er sich nieder und schrieb mir ein Rezept auf, faltete es zusammen und gab es mir. Ich steckte es in die Tasche und ging fort. Ohne es anzusehen, ging ich damit zu dem nächsten Apotheker. Der Mann las es, dann gab er es mir zurück und sagte, er könne das nicht machen. Ich fragte ihn: »Sind Sie Apotheker?« Er sagte darauf: »Ja, ich bin Apotheker. Wenn ich eine Restauration, verbunden mit Familienpension, hätte, so könnte ich Ihnen vielleicht dienen. Da ich nur Apotheker bin, so ist es mir unmöglich!« Ich las nun das Rezept. Es lautete: »1 Pfund Beefsteak mit ½ Liter Bier, alle sechs Stunden. Ein Spaziergang von 4 Stunden jeden Morgen; Schlafengehen präzis 11 Uhr jede Nacht; Und NB. stopfe deinen Kopf nicht mit Sachen voll, die du nicht verstehst.« Ich befolgte diese Vorschriften, und das Ergebnis war, daß ich damals vom sichern Tod errettet wurde und bis auf den heutigen Tag am Leben bin. Im gegenwärtigen Falle aber – um wieder auf die patentierten Leberpillen zurückzukommen – hatte ich wirklich die Symptome ohne alle Frage; das Hauptsächlichste darunter war »eine allgemeine Abneigung gegen irgendwelche Art Tätigkeit«. Was ich in dieser Hinsicht leide, kann keine Zunge aussprechen. Von meiner frühesten Kindheit an habe ich darin ein wirkliches Martyrium ausgestanden. Während meiner Knabenjahre verließ mich das Übel kaum einen Tag. Man wußte damals nicht, daß ich an der Leber litt. Die ärztliche Wissenschaft war damals noch nicht so weit vorgeschritten wie heutzutage; daher nannte man mein Übel einfach »Faulheit«! »Verfluchter Bengel!« pflegte man mir zu sagen, »steh' auf und tue etwas für deinen Lebensunterhalt! Marsch, vorwärts!« – Man wußte eben nicht, daß ich krank war! Und man gab mir keine Pillen – nein, man gab mir eins an den Kopf. Und, so seltsam dies erscheinen mag, diese Ohrfeigen kurierten mich oft wunderbar schnell, wenigstens für eine Zeitlang. Ich erinnere mich, daß damals eine einzige solche Ohrfeige eine größere Wirkung auf mein Leben ausübte – denn ich raffte mich in der Regel rasch auf, um sofort zu tun, was man von mir begehrte – als heutzutage eine ganze Schachtel voll Pillen. Man weiß ja – es geht oft so – diese altväterlichen Hausmittel sind manchmal viel wirksamer als der ganze Apothekerkram. So saßen wir noch eine weitere halbe Stunde beisammen und beschrieben uns gegenseitig unsere Krankheiten. Ich setzte Georg und William Harris auseinander, wie mir zumute sei, wenn ich morgens aufstehe, und William Harris erzählte uns, wie es ihm beim Zubettgehen zumute sei – und Georg stand am Ofen und gab uns eine köstliche Vorstellung zum besten, durch die uns recht anschaulich vergegenwärtigt wurde, wie er sich während der Nacht befinde. Georg bildete sich nämlich ein, er sei auch krank; aber ich versichere, es ist absolut nichts daran. In diesem Augenblick klopfte Frau Poppets an unsere Tür mit der Frage, ob es uns beliebe, zu Nacht zu speisen. Wir lächelten einander traurig an und erwiderten, es wäre vielleicht doch besser, wenn wir versuchten, einen Bissen hinunterzuwürgen. Harris namentlich meinte, etwas Nahrung im Magen halte manchmal die Krankheit im Schach. So brachte denn Frau Poppets das Essen herein; wir gingen zu Tisch und schnipselten uns etwas Beefsteak mit Zwiebeln und etwas Rhabarbertorte ab. Ich muß damals wirklich recht schwach gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich nach Verlauf einer halben Stunde durchaus kein Interesse mehr an dem Essen hatte, was bei mir etwas ganz Ungewöhnliches ist, und daß es mich auch nicht nach Käse verlangte. Nachdem wir diese Pflicht erledigt, füllten wir unsere Gläser aufs neue, zündeten die Pfeifen wieder an und versenkten uns nochmals in die Erörterung unseres Gesundheitszustandes. Was uns eigentlich fehlte, darüber war keiner von uns im klaren, nur darüber waren wir einer Meinung, daß, wie unsere Krankheit auch heißen möge, die Ursache unfehlbar Überanstrengung sei. »Was uns fehlt, ist Ruhe,« sagte Harris. »Ja, Ruhe! und vollständig veränderte Lebensweise,« meinte Georg; »die Überanstrengung unseres Gehirns hat eine allgemeine Erschlaffung des ganzen Nervensystems hervorgebracht. So wird denn ein Wechsel der Umgebung und die gänzliche Enthaltung von jeder Gedankenarbeit auch das geistige Gleichgewicht in uns wieder herstellen.« Georg hat einen Vetter, der Medizin studiert; dadurch hat seine Ausdrucksweise etwas von hausärztlichem Stil angenommen. Indessen stimmte ich Georg zu und beantragte demzufolge, wir sollten uns irgendwo einen verlorenen und weltverlassenen Ort aussuchen, fern von der verrückten und tollmachenden Welt, und in dessen, von einschläferndem Duft erfüllten Gefilden eine sonnige Woche lang hinträumen – an so einen halbvergessenen, von den Feen bewachten Winkel außerhalb des Bereichs der geschäftigen Menschheit – irgendein von den Klippen der Zeit hoch oben herabschauendes Adlernest, wo man nur aus weiter Ferne das schwache Anschlagen der Wogen des neunzehnten Jahrhunderts zu vernehmen bekäme. Harris meinte, das würde kolossal dumm sein. Er sagte, er könne sich lebhaft vorstellen, was für ein langweiliges Quartier mir im Sinne liege, eines, wo jedermann um 8 Uhr abends zu Bette gehe, eines, wo man weder für Geld noch gute Worte einen Schiedsrichter für seine Boxkämpfe auftreiben könne, und wo man erst vier Stunden weit zu laufen habe, wenn man sich ein bißchen Tabak für seine Pfeife holen wolle. »Nein,« sagte Harris, »wenn ihr Veränderung und Ruhe nötig habt, so könnt ihr nichts Besseres tun, als eine kleine Seereise machen.« Gegen die Seereise verwahrte ich mich nun aber ernstlich. Eine Seereise tut einem gut, wenn man ein paar Monate darauf verwenden kann; aber eine Reise von einer Woche, das ist etwas Heimtückisches! Da reist man am Montag mit der festen Überzeugung ab, daß man sich nun köstlich amüsieren werde. Man winkt den Jungens am Ufer noch ein fröhliches Adieu zu, zündet dann seine größte Tabakspfeife an und stolziert auf dem Deck herum, als wäre man ein Kapitän Cook, Sir Francis Drake und Christoph Kolumbus in einer Person. Am Dienstag wünscht man bereits, lieber nicht an Bord zu sein. Am Mittwoch, Donnerstag und Freitag möchte man am liebsten tot sein. Am Samstag endlich fühlt man sich imstande, ein wenig Fleischbrühe hinunterzuschlürfen, auf dem Deck zu sitzen und mit einem schwachen, süßen Lächeln zu antworten, wenn gutherzige Leute einen fragen, wie es jetzt gehe. Am Sonntag fängt man an, wieder auf dem Deck umherzugehen und feste Nahrung zu sich zu nehmen, und am Montag, wenn man mit Handkoffer und Regenschirm bewaffnet auf dem Hinterdeck steht, im Begriff, das Schiff zu verlassen, ist man mit dem Leben auf Deck gerade ganz ausgesöhnt. Ich erinnere mich, wie mein Schwager einst zur Stärkung seiner Gesundheit eine kleine Seereise machte. Er nahm ein Retourbillett von London nach Liverpool. Als er in Liverpool angekommen war, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sein Retourbillett zu verkaufen. Er bot es in der ganzen Stadt zu einem schändlich niedrigen Preise an – so erzählte er mir –, zuletzt wurde es für 1,50 M. von einem gelbsüchtigen Jüngling erworben, dem sein Arzt etwas Bewegung und Seeluft verordnet hatte. »Seeluft!« sagte mein Schwager, indem er ihm das Billett freundlich liebevoll in die Hand drückte, »O, Sie werden Ihr ganzes späteres Leben davon zehren können. – Und was Bewegung anbelangt, so werden Sie sich mehr verschaffen können, wenn Sie sich auf diesem Schiffe niedersetzen, als wenn Sie auf dem Lande Purzelbäume schlügen.« Er selbst – mein Schwager nämlich – kam mit der Eisenbahn zurück. Er meinte, die Nordwestbahn sei gesünder für ihn. Ein anderer Bekannter von mir machte ebenfalls eine Reise von einer Woche längs der Küste. Beim Beginn fragte ihn der Kellner, ob er für jede Mahlzeit besonders bezahlen wolle, oder ob er die Pension für die ganze Woche im voraus zu zahlen gedenke. Der Kellner empfahl ihm den letzteren Modus, da es auf diese Weise viel billiger komme. Er könnte ihm dann für die ganze Woche den Preis auf 45 M. herabsetzen. Zum Frühstück, sagte er, gebe es Fische nebst etwas Braten. Um ein Uhr sei das Gabelfrühstück, das aus vier Gängen bestehe. Die Hauptmahlzeit, um sechs Uhr, bestehe aus Suppe, Fisch, Zwischengang, Braten mit Zuspeise, Geflügel, Salat, süßer Speise, Käse und Dessert. Dann folge noch ein leichtes Abendessen mit Fleisch um zehn Uhr. Mein Freund dachte, unter solchen Umständen sei es weise, auf die 45 M. Pension einzugehen. Denn er ist ein tüchtiger Esser – und so geschah's. Als man Sheerneß passiert hatte, war es gerade zum Gabelfrühstück, aber der Hunger wollte sich nicht wie sonst einstellen, somit begnügte er sich mit einem Bissen Rindfleisch und etwas Stachelbeeren mit Schlagsahne. Während des Nachmittags bewegten ihn allerlei schwere Gedanken, und auf einmal dünkte es ihn, als ob er seit Wochen nichts als Rindfleisch gegessen hätte, und ein anderes Mal schien es ihm, er habe seit Jahren von Stachelbeeren und Schlagsahne gelebt. Weder das Rindfleisch, noch die Stachelbeeren, noch die Schlagsahne schienen in glücklicher Eintracht in seinem Magen zu hausen; es schien eher, daß sie Händel miteinander angefangen hätten. Um 6 Uhr wurde zum Diner angerufen. Diese Ankündigung fand keinen freudigen Widerhall in seiner Seele; aber er fand, daß er denn doch für seine 45 M. etwas haben müsse, hielt sich am Seil und Geländer und stieg hinab. Ein angenehmer Geruch von Zwiebeln und heißem Schinken strömte ihm entgegen, gemischt mit dem Duft gebratener Fische und frischer Gemüse; als er endlich unten angekommen war, kam das glatte Gesicht des Aufwärters heran, der ihn mit maliziösem Lächeln fragte: »Was darf ich Ihnen bringen, mein Herr?« »Mich von hier fortbringen,« war die schwach gehauchte Antwort. Man schob ihn so schnell als möglich die Treppe hinauf, brachte ihn an die Leeseite, lehnte ihn über Bord und überließ ihn dort seinem Schicksal. Während der nächsten vier Tage führte er ein einfaches und sündloses Leben und nährte sich von dünnem Kapitänszwieback – d. h. der Zwieback war dünn, nicht der Kapitän – und Sodawasser; aber gegen Sonnabend rappelte er sich wieder zusammen und ließ sich schwachen Tee und unbestrichene Brotschnitten geben, und am Montag schluckte er mit Ach und Krach etwas Hühnerbrühe. – Am Dienstag verließ er das Schiff. Als es wieder in See stach, konnte er sich eines bedauernden Nachblicks nicht enthalten. »Da segelt es nun fort,« sagte er, »mit einer Masse Lebensmittel an Bord, die ich nicht genossen habe und die doch von Rechts wegen mir gehören!« Er meinte, wenn sie ihn nur noch einen Tag länger an Bord behalten hätten, so würde er es schon ausgeglichen haben. Aus diesen Gründen wollte ich also von einer Seereise nichts wissen. Nicht meinetwegen, wie ich den Freunden auseinandersetzte. Ich bin noch nie seekrank geworden. Aber ich war besorgt um Georg. Der behauptete zwar, er könnte die Seereise herrlich vertragen; aber er möchte mir und Harris doch raten, den Gedanken daran aufzugeben, da er ganz gewiß wisse, daß wir beide seekrank würden. Harris seinerseits meinte, für ihn sei es immer ein Rätsel, wie es die Leute anfingen, seekrank zu werden; er meinte, man müsse es wirklich absichtlich tun, aus Ziererei, um sich interessant zu machen, und fügte noch hinzu, er habe oft gewünscht, einmal seekrank zu werden, sei aber nie dazu imstande gewesen. Dann erzählte er uns allerlei Geschichten, wie er einmal über den Kanal gefahren sei, während eines so heftigen Sturmes, daß man die Passagiere in ihren Schiffsbetten habe festbinden müssen: er und der Kapitän seien die zwei einzigen Seelen an Bord gewesen, die nicht seekrank geworden seien. Ein andermal sei nur er und der zweite Steuermann nicht krank geworden; immer war eben er und »noch einer«, oder aber er allein nicht seekrank. Es ist merkwürdig, aber tatsächlich wahr, daß niemals einer seekrank gewesen sein will, wenn er am Lande ist. Zur See begegnen euch Leute genug, die in der Tat sehr übel auf sind – ja ganze Bootsladungen voll sieht man da –, aber am Lande habe ich noch niemals einen getroffen, der wußte, was es heißt, seekrank zu sein. Wo sich die tausend und aber tausende von Menschen, die an Bord sofort seekrank werden – und jedes Schiff ist ganz voll von ihnen –, auf dem Lande verbergen, ist wenigstens für mich ein Geheimnis. Wenn viele Leute einem gewissen Menschen glichen, den ich einmal auf einem Yarmouthboot sah, so könnte ich das anscheinende Rätsel leicht genug lösen. Das Schiff war, wie ich mich erinnere, eben von der Landungsbrücke bei Southend abgestoßen; da lehnte sich der Mann in einer sehr gefährlichen Weise über eine der Schiebepforten hinaus. Ich ging zu ihm hin, um ihn zu retten. »He! Kommen Sie weiter herein,« sagte ich zu ihm und ergriff ihn an der Schulter, »oder Sie fallen über Bord!« »O mein Gott! Wenn ich doch nur hinunterfiele!« war die einzige Antwort, die ich von ihm erhielt, – und dort mußte ich ihn lassen. Drei Wochen später traf ich meinen Mann in einem Kaffeehaus in Bath, wo er von seinen Reisen sprach und seinen Zuhörern in begeisterten Worten seine Vorliebe für die See ausmalte. Auf die schüchterne Anfrage eines jungen Mannes, ob er nie seekrank werde, erwiderte er: »Nun, ich bekenne, ich war einmal, ein einziges Mal seekrank. Es war am Kap Horn, aber am andern Morgen scheiterte dann auch unser Schiff.« Ich unterbrach ihn: »War Ihnen denn nicht ein wenig sonderbar zumut, wissen Sie, damals, als wir die Landungsbrücke bei Southend verlassen hatten und Sie den Wunsch äußerten, irgendeine mitleidsvolle Seele möchte Sie ins Meer hinunterwerfen?« »Southend? Landungsbrücke?« fragte er ein wenig verwirrt. »Ja! Auf dem Wege nach Yarmouth – letzten Freitag vor drei Wochen.« »O ja!« erwiderte er heiter, als komme ihm nun plötzlich sein Gedächtnis zu Hilfe, »ich erinnere mich jetzt. Ich hatte an jenem Nachmittag starkes Kopfweh. Es kam von den Salzgurken her, wissen Sie! Es waren die abscheulichsten Salzgurken, die ich jemals auf einem Schiffe aß. Haben Sie auch davon genossen?« Was mich selbst anbelangt, so habe ich ein ausgezeichnetes Mittel gegen die Seekrankheit entdeckt, nämlich Rumpfbeugungen. Man stellt sich einfach auf die Mitte des Verdecks, und sobald sich das Schiff hebt oder senkt, macht man die entsprechende Bewegung mit dem Körper, um ihn immer senkrecht über dem Wasser zu halten. Steigt das Vorderteil des Schiffes, so lehnt man sich vorwärts, bis man beinahe das Deck mit der Nase berührt; und wenn das Hinterende heraufkommt, lehnt man sich rückwärts. Das ist nun ganz gut für eine Stunde oder zwei. Aber man kann nicht eine Woche lang ohne Aufhören Rumpfbewegungen machen. Georg sagte: »Fahren wir die Themse aufwärts!« – Wir würden dann, sagte er, frische Luft, Bewegung und Ruhe haben; der beständige Wechsel der Szene würde unsern Geist beschäftigen (soviel Harris davon besitzt, mit eingeschlossen), und die anstrengende Ruderarbeit würde uns guten Appetit und gesunden Schlaf machen. Harris meinte, er denke nicht, daß Georg sich irgendwie noch anzustrengen brauche, um noch schläfriger, als er ohnehin schon sei, zu werden; das könnte sogar gefährlich für ihn werden. Er meinte, er könne nicht einsehen, wie Georg noch mehr schlafen möchte, da doch jeden Tag, im Sommer wie im Winter, nur 24 Stunden dafür verfügbar seien; wenn er aber noch mehr schlafen wolle, so könne er sich nur gleich zum Sterben niederlegen, dann erspare er Kost und Wohnung. Harris gab indessen zu, daß die Flußpartie ihm bis aufs »T« passe. Ich weiß nun nicht, was ein T bedeuten soll, ausgenommen ein T (Tee) für einen halben Schilling, wobei man noch Butterbrot und Kuchen ad libitum verzehren darf, was ja ziemlich wohlfeil ist, wenn man kein Mittagessen gehabt und den mittäglichen Hunger daran stillen will: in solchem Fall weiß ich, was ein T bedeutet. Wenn ich's auch sonst nicht weiß, so steht doch soviel fest, daß schließlich jedermann für die Flußpartie stimmte, was dem Fluß eine große Ehre sein muß. Er paßte uns andern ebenfalls bis aufs »T«, und ich sowohl wie Harris erklärten es für eine gute Idee von Georg; wir sagten dies in einem Tone, der anzudeuten schien, wie erstaunt wir seien, daß Georg auf einmal so verständig geworden sei. Der einzige unter uns, der keinen Geschmack an dem Vorschlag finden konnte, war Montmorency. Er hatte nie eine Vorliebe für den Fluß gehabt, nein, niemals! »Es ist das alles recht gut für euch Burschen,« meinte er ohne Zweifel, »euch gefällt's wohl, aber mir nun eben nicht; da gibt's für mich nichts zu tun, landschaftliche Reize sind mir gleichgültig, auch rauche ich nicht! Wenn ich eine Ratte erblicke, werdet ihr gewiß nicht anhalten, und wenn ich ein bißchen schlafen möchte, so macht ihr närrisches Zeug mit dem Boot und werft mich über Bord. Wenn ihr mich um meine Meinung fragt, so sage ich euch geradezu: Diese Flußfahrt ist die reine Narrheit!« Indessen waren wir drei gegen eine Stimme, und so ging der Antrag durch. * Wir breiteten unsere Karten aus, erörterten die Reisepläne und kamen schließlich überein, am folgenden Samstag von Kingston aus die Ruderfahrt anzutreten. Harris und ich wollten morgens mit der Bahn dahinfahren und uns bis nach Chertsey hinaufrudern, und Georg, der verhindert sein würde, vor nachmittag die City zu verlassen[Fußnote: Die Altstadt Londons, die fast ausschließlich aus Geschäftshäusern besteht.] (denn er pflegt nämlich in einem Bankgeschäft von 10 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags zu schlafen, ausgenommen an den Samstagen, wo man ihn um 2 Uhr aufweckt und hinauswirft,[Fußnote: Samstags sind in England alle Geschäfte mindestens von 2 Uhr an geschlossen.] wollte mit der Bahn bis Chertsey reisen und dort mit uns zusammentreffen. Sollten wir im Freien übernachten oder ans Land steigen und ein Wirtshaus aufsuchen? Georg und ich waren beide fürs Übernachten im Freien. Wir meinten, das hieße dann so recht: »Ein freies Leben führen wir«, das habe so etwas Wildes und Romantisches, so etwas Patriarchalisches an sich. Langsam verblaßte der goldene Wolkensaum, die letzte Erinnerung an die entschwundene Sonne, und kalt und trübe starren die Wolken. Die Vögel sind wie trauernde Kinder still geworden; nur des Moorhuhns klagender Ruf und das heisere Gekrächze der Raben unterbricht die schaurige Stille, die ringsum auf den Wassern liegt, auf welche der sterbende Tag seinen letzten Schimmer hinhaucht. Aus dem Dunkel der Uferbüsche kriecht die Geisterschar der Nacht, kriechen die grauen Schatten geräuschlos hervor und verscheuchen die letzten Nachzügler des Lichts, und leise, mit unsichtbaren Füßen, schleichen sie über das hohe Ufergras und durch das seufzende Röhricht, und die Nacht faltet von ihrem düstern Throne aus ihre schwarzen Schwingen über die im Dunkel versinkende Welt, und Schweigen regiert in ihrem von den Sternen spärlich beleuchteten Palaste. Dann lenken wir unser kleines Boot in irgendein trauliches Plätzchen; das Zelt wird darüber aufgerichtet und das frugale Abendessen bereitet und genossen. Nun werden die großen Pfeifen gestopft und angezündet, und gemütliches Geplauder geht hin und wieder; während in den Pausen unserer Unterhaltung der Fluß leise an unser Boot plätschert und seltsame, alte, geheimnisvolle Geschichten erzählt und den alten Wiegengesang anstimmt, den er schon vor soviel tausend Jahren gesungen und noch so viele tausend Jahre singen wird, jenen Gesang, den wir zu verstehen glauben, da wir so oft an seinem liebevollen Busen geruht und seine flüsternden Töne vernommen haben, obschon wir in Worten die Geschichten, denen wir lauschen, nicht wiederzugeben vermöchten. Und wir sitzen hier an seinem Rande, während sich der Mond, der ihn ebenfalls liebt, herunterneigt, ihn mit schwesterlichem Kuß zu küssen und ihn mit seinen Silberarmen zärtlich zu umschlingen; und wir schauen zu und lauschen, wie er ewig singend, ewig flüsternd, hinunterfließt, um sich mit seiner Herrin, der See, zu vereinigen, – bis unsere Stimmen dann ebenfalls ersterben, die Pfeifen ausgehen, und wir – sonst nicht viel mehr als junge Alltagsmenschen – von seltsamen, traurigsüßen Gedanken uns erfüllt fühlen, die wir nicht auszusprechen wissen, noch auszusprechen wünschen, – bis wir anfangen zu lachen und uns erheben, um die Asche aus den erloschenen Pfeifen auszuklopfen und uns gegenseitig gute Nacht zu wünschen, und eingelullt von dem leise an unser Boot leckenden Wasser und dem Rauschen der Uferbüsche, unter dem großen, weiten Sternenzelt einschlafen und träumen, die Welt sei wieder jung geworden, jung und süß und frisch, wie sie zu sein pflegte, ehe Jahrhunderte von Not und Sorgen ihr schönes Antlitz gefurcht, ehe ihrer Kinder Sünden und Torheiten ihr liebendes Herz versteinert hatten; träumen, sie sei wieder die hohe, junge Mutter, wie in jenen entschwundenen Zeiten, wo sie uns Kinder an ihrem vollen Busen nährte, ehe die Lockungen einer übertünchten Zivilisation uns aus ihren Liebesarmen weggelockt hatten, und das Gift und der Hohn einer überfeinerten Welt uns veranlaßte, uns des einfachen Lebens, das wir mit ihr geführt hatten, zu schämen, und des ländlichen, traulichen, heimischen Herdes, an dem die Menschheit so viele tausend Jahre zuvor geruht hatte. – »Wie aber, wenn es regnet?« fragte Harris – Harris läßt sich niemals und durch nichts fortreißen. Er ist so ganz und gar nicht poetisch angehaucht, bei ihm ist keine Sehnsucht nach dem ewig Unerreichbaren; Harris weint niemals, »ohne zu wissen, warum!« – Wenn sich seine Augen mit Tränen füllen, so könnt ihr darauf schwören, daß er entweder rohe Zwiebeln gegessen oder zuviel Worcestersauce[Fußnote: Eine sehr scharfe Sauce, die man in Flaschen kauft.] auf seine Hammelkeule gegossen hat. Wenn ihr einmal während der Nacht mit Harris am Seeufer stündet und zu ihm sprächt: »Horch! Hörst du nichts? Ist das nicht der Gesang der Meerjungfrauen in der Tiefe? oder die Trauergeister, die die Totengesänge für die weißen Leichname singen, die im Seegras hängen?« – so nimmt euch Harris am Arm und sagt: »Ich weiß, was es ist, alter Junge! Du hast dich erkältet. Nun komm' nur mit mir; gleich da um die nächste Ecke weiß ich ein Plätzchen, wo du den feinsten schottischen Whisky bekommst, den du jemals geschluckt hast, der bringt dich stracks wieder zurecht!« Harris weiß nämlich immer ein Plätzchen »gleich um die nächste Ecke«, wo man etwas Brillantes zu trinken bekommt. Ich glaube, wenn ihr Harris im Paradiese begegnen würdet, wenn er überhaupt jemals dahin gelangte, so würde er euch sofort begrüßen: »O, wie freue ich mich, daß du gekommen bist, altes Haus! Ich habe da gleich um die nächste Ecke ein gar nettes Plätzchen gefunden, wo man wirklich den feinsten Nektar schlürft.« Im gegenwärtigen Fall indessen, wo es sich um das Logieren im Freien handelte, kam sein praktischer Einfall gar nicht zur Unzeit. Bei Regenwetter im Freien zu übernachten ist nicht angenehm. Man denke sich: es ist Abend; man ist durch und durch naß, und das Boot ist gut zwei Zoll hoch mit Wasser gefüllt, und alles ist weich von der Nässe. Man findet einen Platz am Ufer, der einem weniger morastig erscheint als das übrige Uferland; so landet man denn, holt das Zelt heraus und zwei von der Gesellschaft fangen an, es aufzuschlagen. Es ist ganz vom Wasser durchtränkt und unsinnig schwer, schlappt um einen herum, schlägt einem aufs Haupt, klebt an einem und ist nicht wieder wegzubringen, obgleich man schier verrückt darüber wird. Währenddessen regnet es unverdrossen fort. Ein Zelt aufzuschlagen ist schon bei gutem Wetter eine Mühe, bei Regenwetter wird es eine Herkulesarbeit. – Euer dritter Mann, anstatt euch zu helfen, scheint euch noch zum besten haben zu wollen. Eben wenn ihr euer Ende hübsch fest gemacht habt, läßt er seines fahren, und die ganze Mühe ist verloren. »Na, was machst du denn!?« ruft er ihm zu. »Ja, was machst du denn für Zeug?« erwidert er, »Mach's fest! Kannst du denn das nicht?« »Zieh' doch nicht daran! Du machst ja alles verkehrt, du dummer Esel!« schreit ihr nun hinüber. »Nein, ich habe es nicht verkehrt angegriffen,« ruft er dagegen, »laß du deine Seite fahren.« »Und ich sage dir, du hast das Ding verkehrt angefaßt,« brüllt ihr ihm nun zu und wünscht im stillen, ihm eins verabreichen zu können; und ihr zieht an euren Tauen und reißt ihm alle seine Pflöcke wieder aus. »O! Dieses Rindvieh!« hört ihr ihn noch vor sich hinbrummen; dann erfolgt ein wilder Zug und fort fliegt das Zelt auf eurer Seite. Ihr werft den Hammer weg und geht um das Ding herum zu ihm hinüber, um ihm zu sagen, was ihr von seiner Art zu arbeiten haltet; und er geht auf der anderen Seite in derselben Absicht zu euch hin. – Und so geht ihr dann umeinander herum und flucht und wettert, bis endlich das Zelt auf einen Haufen zusammenkracht und ihr über seinen sterblichen Überresten einander anstarren könnt und euch nun beide in einem Atem höchlichst entrüstet anschreit: »So! Da haben wir's! Hab' ich dir's nicht vorhergesagt?« Mittlerweile hat euer dritter Mann das Boot ausgeschöpft, wobei ihm das Wasser durch die Ärmel am bloßen Leib hinabgelaufen ist, und hat dabei während der letzten zehn Minuten immer leise vor sich hin geflucht; er will jetzt wissen, was, bei allen Teufeln, ihr denn gemacht habt, und warum das verdammte Zelt noch immer nicht aufgeschlagen ist? Endlich aber kommt es auf die eine oder andere Weise zustande, und man landet die Sachen. Ein Holzfeuer anzufachen, ist ein vergebliches Bemühen, so wird denn die Weingeistflamme angezündet, um welche sich nun die Insassen gesellen. Regenwasser ist der Hauptartikel bei dem Abendschmaus. Das Brot besteht zu zwei Dritteln aus Regenwasser, das Beefsteak enthält solches in reichster Menge, und die eingemachten Früchte, die Butter, das Salz und der Kaffee haben sich friedlich zu einer Suppe vereinigt! Nach dem Nachtessen stellt sich heraus, daß der Tabak naß geworden ist und ihr nicht rauchen könnt. Glücklicherweise habt ihr noch eine Flasche von dem Stoff der Erheiterung und des Vergessens – NB. in gehöriger Quantität zu genießen! – Der stellt euer Interesse am Leben so weit wieder her, daß ihr es über euch vermögt, euch hinterher ins Bett zu begeben. Da träumt euch denn, ein Elefant habe sich auf eure Brust niedergelassen, und ein Vulkan sei ausgebrochen und habe euch auf den Grund der See versenkt, während der Elefant noch immer mit unverrücktem Gleichmut auf eurem Busen schlafe. Jetzt wacht ihr auf mit dem Bewußtsein, daß irgend etwas Furchtbares passiert sein müsse. Eure erste Vermutung ist die, daß der Weltuntergang stattgefunden habe; dann fällt euch ein, daß dies doch nicht wohl möglich sei, und ihr denkt an Räuber und Mörder oder an eine Feuersbrunst und gebt dieser Vermutung in der gewöhnlichen Weise Ausdruck. Aber keine Hilfe kommt, und alles, was ihr mit Bestimmtheit anzugeben wißt, ist, daß eine ganze Horde Menschen euch Püffe versetzt und ihr obendrein erstickt werdet. Jemand anders scheint auch in Nöten zu sein. Ihr hört seine schwachen Ausrufe unter eurem Lager hervorkommen. Entschlossen, auf jeden Fall euer Leben teuer zu verkaufen, kämpft ihr ganz krampfhaft, indem ihr rechts und links mit Armen und Beinen ausschlagt und währenddessen hell aufschreit; zuletzt gibt irgend etwas nach, und ihr fühlt euren Kopf von frischer Luft umweht. Zwei Schritt von euch entfernt erkennt ihr im Dunkel einen halb angezogenen Kerl, der euch offenbar abtun will, und mit dem ihr euch jetzt auf einen Kampf auf Leben und Tod einlassen wollt – bis es euch zu dämmern beginnt, daß es euer Freund Jim ist. »So, du bist's, du?« sagt der, der euch nun auch erkennt. »Ja!« sagt ihr, indem ihr euch die Augen reibt, »was ist passiert?« »Das verdammte Zelt ist, glaube ich, auf uns heruntergefallen,« sagt er. »Aber wo steckt denn Wilhelm?« Dann ruft ihr beide aus Leibeskräften nach Wilhelm; da hebt und bewegt sich der Grund unter euch, und die erstickte Stimme, die ihr vorhin hörtet, antwortet euch aus der Zeltruine heraus. »Könnt ihr euch auf keinem andern Platz Rendezvous geben als auf meinem Kopf? Wie?« Und Wilhelm strampelt und müht sich ab und schält sich endlich aus dem Haufen heraus, ein schmutziges, zertretenes Etwas, das sich in ganz unnötig feindseliger Stimmung befindet; denn er hat die fixe Idee, daß man ihm absichtlich so mitgespielt habe. Am andern Morgen seid ihr alle drei heiser, da ihr euch während des nächtlichen Manövers stark erkältet habt. Ihr seid an diesem Morgen sehr streitbarer Natur. Und ihr flucht mit heiserer Stimme während der ganzen Frühstückszeit. Also bestimmten wir, bei schönem Wetter im Freien zu übernachten, aber bei Regenwetter, oder wenn wir das Bedürfnis nach einem Wechsel fühlten, in einem Hotel, Wirtshaus oder Schenke zu schlafen, wie andere respektable Leute. Montmorency begrüßte diese Entscheidung mit großem Beifall. Er schwärmt nicht für die Romantik der Einsamkeit. Etwas lärmende Unterhaltung, auch wenn sie nicht von der feinsten Art ist, behagt ihm weit besser. Wenn man Montmorency anschaut, möchte man denken, es sei ein auf die Erde gesandter Engel, der aus irgendeinem Grunde nicht menschliche Gestalt annehmen durfte, sondern in die eines kleinen Foxterriers gebannt wurde. Er hat einen Ausdruck in seinem Hundegesicht, der deutlich sagt: »O, was für eine schlechte Welt ist doch dies! O! Wie wünschte ich, sie besser und edler zu machen!« – Ja, so sieht er drein; und ich erinnere mich, daß er mit diesem Ausdruck zartfühlenden älteren Damen und Herren schon Tränen entlockt hat. Als er zuerst bei mir Kost und Wohnung empfing, da dachte ich nicht, daß ich ihn lange behalten dürfe. Wenn ich ihn so ansah, wie er auf dem Kaminteppich lag und zu mir aufschaute, so konnte ich nicht umhin, zu denken: »O, dieser Hund wird nicht alt! Er wird auf einem Wagen in den hehren Himmel fahren; ja, gewiß, das wird sein Los sein!« Aber nachdem ich ungefähr ein Dutzend Hühner, die er zerrissen, hatte vergüten müssen, und ihn, knurrend und um sich beißend, am Halsband aus wohl 114 Straßengefechten herausgerissen hatte; und nachdem eine aufs höchste erboste Dame mir ihre von ihm getötete Katze vor die Füße geworfen und mich einen Mörder genannt hatte; und als ich von einem meiner Nachbarn vor Gericht zitiert wurde, weil mein wütender Hund ihn während einer Grimmkälte über zwei Stunden lang in seinem Werkschuppen belagert habe, und als ich hörte, daß der Gärtner ohne mein Wissen 30 Schilling damit verdient hatte, daß er ihm Ratten fing (nämlich der Hund dem Gärtner), so kam mir endlich doch ein anderer Gedanke betreffs seines friedlichen Lebenswandels, und ich glaubte nicht mehr so recht an seine demnächstige Himmelfahrt! – Um einen Stall herumlungern und eine Bande der unreputabelsten Hunde, die in der Stadt zu finden sind, um sich zu versammeln, und sie dann gegen andere ebenso unreputabele Hunde ins Gefecht zu führen, das scheint Montmorency für seinen Lebenszweck zu halten, und deswegen gab er der Idee, im Wirtshaus und in Schenken zu übernachten, seinen lebhaften Beifall. Nachdem wir vier dermaßen über unser Nachtquartier ins reine gekommen waren, blieb uns nur noch übrig, auszumachen, was wir an Gepäck mitnehmen sollten; aber als dieser Gegenstand aufs Tapet gebracht war, meinte Harris, er habe heute abend schon genug Leistungen zum besten gegeben und mit angehört und schlage deshalb vor, wir sollten alle miteinander ausgehen und »einen hinter die Binde gießen«, gleich beim nächsten Häuserviereck habe er ein Plätzchen ausfindig gemacht, wo man ein feines Tröpfchen irischen Whiskys zu schlürfen kriege. Georg meinte, er verspüre etwas wie Durst (ich kann mich der Stunde nicht entsinnen, in welcher Georg keinen Durst verspürt), und da mir eine deutliche Ahnung sagte, daß etwas warmer Whisky, im Verein mit einer Zitronenscheibe, meinem Leiden Linderung bringen würde, so wurde unter allgemeiner Zustimmung die Debatte auf den folgenden Abend vertagt; die Versammlung griff nach Hut und Stock und hub sich von dannen. * Am folgenden Abend kamen wir denn wiederum zusammen, um unsere Pläne und Vorbereitungen zu besprechen. Harris meinte: »Das erste, worüber wir uns jetzt einigen müssen, ist, was wir mitnehmen wollen. Nun nimmst du, Jerome, ein Stück Papier und schreibst auf, du, Georg, schaffst uns den Preiskurant einer Drogenhandlung an, und irgendeiner soll mir einen Bleistift geben, dann will ich eine Liste entwerfen.« So ist Harris' Methode immer gewesen. Wenn man ihn zuerst hört, so nimmt er immer die ganze Last auf sich selbst; in Wahrheit aber lädt er sie ganz hübsch den andern auf den Rücken. Er erinnert mich immer an meinen Onkel Podger. In meinem Leben habe ich kein ähnliches Durcheinander in einem friedlichen Hause gesehen, als wenn mein Onkel irgendeine Kleinigkeit zu tun unternahm. Wenn z. B. ein Porträt vom Einrahmen zurückgekommen war und im Speisesaal an der Wand lehnte, um aufgehängt zu werden, und meine Tante Podger fragte, was nun damit geschehen solle, so pflegte Onkel Podger zu sagen: »O! Überlaßt das nur mir, kümmert euch nicht darum; das werde ich alles schon machen.« Dann zieht er den Rock aus und beginnt. Er schickt das Hausmädchen fort, um für einen halben Schilling Nägel zu holen, und dann schickt er ihr einen der Jungen nach, um ihr noch sagen zu lassen, von welcher Größe die Nägel sein müssen. In dieser Weise setzt er nach und nach das ganze Haus in Bewegung. »So, jetzt gehst du und holst mir einmal einen Hammer, Willy,« kommandiert er, »und du, Thomas, bringst mir einen Maßstab oder Lineal, dann brauche ich auch die Treppenleiter, und ein Küchenstuhl dazu würde auch nichts schaden. Und du, Jakob, du gehst geschwind zu Herrn Goggels und sagst ihm: Pa (Papa) läßt sich ihm empfehlen und hofft, es werde mit seinem Fuß besser gehen, und ob er ihm nicht seine Wasserwage leihen könnte?« »Und du, Marie, lauf' mir doch nicht weg! Du mußt mir ja das Licht halten, und wenn das Mädchen zurückkommt, muß sie noch einmal fort, um eine Porträtschnur zu kaufen, und du, Thomas – wo ist denn Thomas? Tom, du kommst her und reichst mir das Porträt herauf.« Dann nimmt er das Porträt herauf und läßt es richtig fallen; darüber geht der Rahmen auseinander, und indem er das Glas retten will, schneidet er sich in den Finger; dann rennt er im Zimmer herum und sucht sein Taschentuch. Aber er kann es nirgends finden, weil er es in seiner Rocktasche hat und nicht mehr weiß, wo er den Rock hingehängt hat; und das ganze Haus muß nun alles liegen und stehen lassen und anstatt nach seinen Werkzeugen nach seinem Sacktuch auf die Suche gehen, während er überall herumrennt und jedermann hindert. »Nun, weiß denn niemand im ganzen Haus, wo mein Rock ist? In meinem ganzen Leben habe ich keinen solchen Haufen Leute gesehen wie ihr miteinander. Nein, auf mein Wort, so was wie ihr ist mir noch nie vorgekommen. Eurer sechse seid ihr und könnt alle miteinander meinen Rock nicht finden, den ich vor fünf Minuten erst ausgezogen habe? Weiß Gott! Euch alle sollte man ...« Dann fährt er in die Höhe und bemerkt bei dieser Gelegenheit, daß er darauf gesessen hat. »Ihr Dummköpfe,« schreit er. »Laßt doch euer Suchen! Ich habe ihn längst gefunden!« »Könnte ebensogut der Katze sagen, meinen Rock zu suchen, als erwarten, daß ihn einer von euch findet.« Nach einer halben Stunde ist dann sein Finger verbunden, ein neues Glas ist über dem Bild angebracht, und das Handwerkszeug und die Bockleiter und der Küchenstuhl und das Licht, kurz, alles ist herbeigeschafft, und die ganze Familie, das Hausmädchen und die Aufwärterin mit eingeschlossen, stehen im Kreise herum, um ihm zu helfen. Zwei von ihnen müssen den Stuhl halten, ein drittes muß ihm hinaufhelfen und ihn halten, ein viertes ihm den Nagel reichen, ein fünftes den Hammer, dann nimmt er den Nagel, läßt ihn aber fallen. »So! da' habt ihr's!« ruft er nun aufs höchste beleidigt aus, »nun ist der Nagel zum Teufel!« Dann lassen sich alle auf ihre Knie nieder und rutschen auf dem Boden herum, um den Nagel wiederzufinden; währenddessen steht er steif auf dem Stuhl und brummt und schimpft und fragt, ob er denn den ganzen Abend da auf dem Stuhl stehen und warten solle? Zuletzt wird der Nagel gefunden, aber inzwischen hat er den Hammer verloren. »Wo ist der Hammer? Wo habe ich den Hammer hingebracht? Gott im Himmel! Sieben von euch stehen da, sperren Augen und Mäuler auf und keiner weiß, wo ich den Hammer hingebracht habe?« Nun wird der Hammer gefunden; inzwischen hat er das Zeichen für den Punkt, wo der Nagel eingeschlagen werden soll, aus den Augen verloren, und eines um das andere von uns muß auf den Stuhl steigen und sehen, ob es ihn nicht finden kann; und dann pflegte er uns alle als hirnverbrannt zu bezeichnen, wenn jeder von uns das Zeichen an einem anderen Orte gefunden hatte, und schickte uns alle nacheinander wieder hinunter, – und dann nahm er den Maßstab und maß noch einmal, und fand, daß er von der Ecke aus 31⅜ Zoll abmessen sollte, und wollte nun im Kopf berechnen, wieviel dies ausmache, und bracht' es nicht fertig und wurde immer konfuser, je länger er rechnete. Und dann wollten wir es auch im Kopf ausrechnen, und jeder brachte eine andere Lösung heraus, und wir verhöhnten uns gegenseitig. Und in der allgemeinen Aufregung wurde die ursprüngliche Zahl vergessen, und Onkel Podger mußte von vorn anfangen. Diesmal nun nahm er eine Schnur, aber in dem kritischen Moment, da er sich in einem Winkel von 45° über den Stuhl hinausbog und einen Punkt, der drei Zoll weit außer seinem Bereich war, zu erreichen suchte, entschlüpfte dem alten Herrn die Schnur, und er polterte auf das Klavier hinab, das uns bei diesem Anlaß einen höchst effektvollen Ohrenschmaus zum besten gab, da Onkel Podgers Kopf und Rumpf in demselben Augenblick sämtliche Tasten angeschlagen hatte. Aber das Donnerwetter, das jetzt losbrach! – Tante Marie erklärte, sie wolle den Kindern nicht länger erlauben, dabeizustehen und eine solche Sprache mit anzuhören. Zuletzt traf Onkel Podger doch den Punkt wieder und hielt den Daumen der linken Hand darauf, während er nun mit der rechten Hand den Hammer ergriff; mit dem ersten Streich traf er dann auch richtig seinen Daumen und warf den Hammer mit einem Wehgeschrei jemand auf die Füße. Tante Marie bemerkte milde, das nächste Mal, wenn Onkel Podger wieder einen Nagel einschlagen wolle, werde er es ihr hoffentlich zuvor sagen, damit sie auf eine Woche zu ihrer Mutter ziehen könne. »O, ihr Weiber!« pflegte dann mein Onkel, indem er sich stolz aufrichtete, auszurufen. »Ihr macht gleich solche Geschichten über alles! Aber ich, – nun, mir behagt gerade solch ein kleiner Spaß!« Hierauf versuchte er es noch einmal, und beim zweiten Streich ging der Nagel flott durch die Wand, und der Hammer auch noch zur Hälfte, und Onkel Podger flog mit dem Kopf dagegen mit solcher Gewalt, daß seine Nase schier platt gedrückt wurde. Dann mußten wir den Maßstab und die Schnur wiederfinden, und dann wurde ein neues Loch gemacht; und so gegen Mitternacht hing dann das Porträt, – sehr schief zwar und unsicher, und die Wand sah auf mehrere Meter aus, als wäre sie mit einem eisernen Rechen gekämmt worden, und jedermann war zum Umsinken matt und elend – ausgenommen Onkel Podger. »So!« ruft er aus, »fertig ist's!« und wirft sich dabei in die Brust und zugleich der Aufwärterin den Stuhl auf die Hühneraugen. »Manche Leute hätten sich zu einem solchen Geschäft einen Tapezierer kommen lassen! Was?« – – Unser Harris ist auch so einer von dieser Sorte, wenn er sich an ein Geschäft machen will. Ich wollte nicht leiden, daß er sich so viele Mühe mache, und sagte zu ihm: »Nein, Harris! Du sorgst für Papier, Bleistift und Preiskurant, Georg schreibt auf, und ich will dann das übrige tun.« Die erste Liste, die wir zusammenstellten, mußte vernichtet werden; es war klar, der Oberlauf der Themse wäre nicht breit genug gewesen, um das Boot zu tragen, das die in jener Liste verzeichneten Sachen alle enthielte. So zerrissen wir denn die Liste und schauten einander an. Georg meinte: »Wir sind allesamt auf dem Holzwege! Wir müssen nicht an alles das denken, was wir brauchen könnten, sondern an das, was wir absolut nicht entbehren können.« Georg hat manchmal einen ganz verständigen Einfall, so erstaunlich das auch klingt. Ich heiße das Weisheit in höchster Potenz, nicht nur in bezug auf die gegenwärtige Frage und Reise, sondern in bezug auf die Lebensreise überhaupt. – Wie viele Leute laden für diese Reise ihr Boot mit einem Haufen unnötiger Sachen voll, so daß es beständig in Gefahr schwebt, umzukippen! All diese Sachen halten sie für unerläßlich zu ihrem Vergnügen und ihrer Behaglichkeit, während sie in der Tat ganz unnützer Ballast sind! Wie häufen sie doch das arme, kleine Ding an, mit schönen Kleidern, mit großen Häusern, mit einer Bande fauler Bedienten, mit einer Schar schmarotzender Freunde, die sich keinen Pfifferling um sie kümmern, und um die sie sich selbst keinen halben Pfifferling kümmern, wie beladen sie es mit kostspieligen Festen, an denen niemand ein wirkliches Vergnügen findet, mit Förmlichkeiten und Modetorheiten, mit Anmaßung und Herausforderung, und – o schwerster und dümmster Ballast! – mit der Furcht, was wird mein Nachbar dazu sagen? Mit Luxus, der doch nur Tünche, mit Vergnügungen, deren wir doch bald überdrüssig werden! Mit leeren Schaustellungen, die unser Haupt schmerzen und bluten machen, wie die eiserne Krone, die man ehedem dem Verbrecher aufsetzte! Ballast ist's, ihr Leute, lauter Ballast! Werft ihn über Bord! Er macht nur, daß euer Boot so schwer vorwärts zu bringen ist, daß ihr beinahe darüber erliegt! Er macht, daß euer Boot so mühsam und gefährlich zu steuern ist, daß ihr niemals auch nur für einen Augenblick der Angst und Sorge ledig seid; daß ihr euch niemals, auch nur für einen Moment, dem dolce far niente hingeben dürft, daß euch keine Zeit bleibt, die flüchtigen Schatten zu beobachten, wie sie über die Untiefen weghuschen, oder die glänzenden Sonnenstrahlen zu verfolgen, wie sie auf den sich kräuselnden Wellen umherhüpfen, oder das Auge zu weiden an den hohen Uferbäumen, die ihr eigen Bild in der Tiefe betrachten, an den Wäldern mit ihren goldgrünen Wipfeln, an den weißen und gelben Lilien, an den düsterwogenden Ried- und Schilfgräsern, an den blassen Orchideen oder den blauen Vergißmeinnichtaugen! Werft ihn über Bord, ihr Menschen, den Ballast! Laßt euer Lebensschifflein leicht dahinschweben, nur mit dem Nötigsten beschwert! Ein heimliches Nest mit seinen stillen Freuden, ein oder zwei Freunde, die dieses Namens wert; jemand, den ihr liebt, und jemand, der euch liebt! Eine Katze, ein Hund, eine Pfeife oder zwei; Kleidung und Nahrung, soviel man braucht; und etwas Überfluß an trinkbarem Stoff, – denn der Durst ist gefährlich! Dann werdet ihr das Boot leichter fortbringen, und es wird weniger der Gefahr des Umkippens ausgesetzt sein, und es wird auch nicht viel schaden, wenn es ein- oder das andremal umschlägt; gute, richtige Ware muß auch einmal naß werden dürfen! Ihr habt dann Zeit zum Nachdenken sowohl als zur Arbeit, Zeit, des Lebens Sonnenschein einzusaugen, Zeit, den Äolsharfentönen zu lauschen, welche Gottes Winde auf den Saiten des Menschenherzens erklingen lassen, Zeit zur – Doch ich bitte um Verzeihung! – Ich vergaß mich ganz. Wir überließen es jetzt Georg, die Liste festzustellen, und er begann: »Wir brauchen kein Zelt. Was wir brauchen, das ist ein Boot mit einer Decke, die darüber befestigt werden kann. Es ist weit einfacher und viel bequemer.« Das schien uns ein guter Gedanke, der sofort Anklang fand. Ich weiß nicht, ob ihr jemals ein solches Ding gesehen habt. Man spannt eiserne Reifen im Bogen über das Boot her und zieht dann ein Stück Segeltuch darüber vom Schnabel des Schiffs bis zum Steuer, und so verwandelt sich das Boot in ein kleines Häuschen, in welchem es gar mollig, freilich auch ein bißchen dumpfig ist. Jedes Ding hat nun eben einmal seine Schattenseite, wie jener Mann sagte, als man nach dem Tode seiner Schwiegermutter ihm die Begräbniskosten abforderte. Georg diktierte ferner, wir hätten uns mit einer Decke, einer Lampe, etwas Seife, Kamm und Bürste (zu gemeinschaftlichem Gebrauch) zu versehen, ferner mit einer Zahnbürste (d. h. jeder von uns), einem Waschbecken, etwas Zahnpulver, Rasierzeug (lautet das nicht wie der Übungsstoff aus einer französischen Grammatik?), und ferner ein paar großen Leintüchern zum Abtrocknen. Ich bemerke, daß die Leute immer gewaltige Vorbereitungen zum Baden treffen, wenn sie irgendwohin reisen, wo es Wasser gibt, aber einmal an Ort und Stelle fällt es ihnen gar nicht ein. Das nämliche könnt ihr wahrnehmen, wenn ihr an die See geht. Wenn ich in London über die Sache so nachdenke, so bin ich fest entschlossen, jeden Morgen früh aufzustehen und mich vor dem Frühstück erst einmal tüchtig ins Wasser zu tauchen, und ich packe pflichtgemäß ein paar Badehosen und ein Badehandtuch zusammen – ich trage immer rote Badehosen. Ich bilde mir was ein auf meine roten Badehosen. Ich meine, sie passen am besten zu meiner Gesichtsfarbe. Aber wenn ich dann ins Seebad komme, so habe ich gar nicht so sonderliches Verlangen mehr nach einem solchen Morgenbad, wie ich es vorher in London empfand. Im Gegenteil, ich habe die Empfindung, daß es am besten für mich sei, wenn ich solange als nur irgend möglich im Bett liegen bliebe und dann mein Frühstück zu mir nähme. Ein oder zweimal indessen siegte dennoch die Tugend; da ging ich um sechs Uhr morgens, halb angekleidet, mit meinen Badehosen und meinem Tuch in der Hand ziemlich trübselig nach dem Seeufer hinab; aber ich hatte keinen Genuß davon. Es scheint sich dort ein solch schneidender Ostwind aufzuhalten und expreß auf mich zu warten, wenn ich morgens baden gehe; und es ist, als hätte man die scharfkantigsten Steine alle ausgelesen, den ganzen Boden damit bestreut, die Felsen extra zugespitzt und dann ein wenig mit Sand bedeckt, so daß ich sie nicht sehen kann; und das Meer ist so boshaft, eine halbe Stunde weit zurückzugehen, so daß ich mich in meine Arme einwickeln und hüpfen muß, und dennoch in dem nur sechs Zoll hohen Wasser vor Kälte klappere. Und wenn ich mich endlich doch bis zur tieferen See durchringe, so ist sie wahrhaft beleidigend stürmisch und widerwärtig. Eine mächtige Welle hebt mich in die Höhe und läßt mich dann so niedersitzen, daß mir alle Knochen weh tun, auf einen Felsen, der extra für mich dahin gepflanzt wurde. Und bevor ich nur »o, jemine!« ausrufen kann und herausfinde, was mit mir vorgegangen ist, kommt die Welle zum zweitenmal und trägt mich in den offenen Ozean hinaus. Jetzt habe ich mich krampfhaft zu wehren, damit ich wieder ans Ufer gelange, und zweifle schon, ob ich jemals Heimat und Freunde wiedersehen werde, und da fällt mir bei, wie ich gegen meine kleine Schwester in der Knabenzeit – nicht in ihrer, sondern in meiner Knabenzeit – hätte liebreicher sein sollen. Gerade nachdem ich schon alle Hoffnung aufgegeben, zieht sich die Woge zurück und läßt mich zappelnd wie einen Seeigel auf dem Ufersand liegen, und dann richte ich mich auf und bemerke, daß ich – in zwei Fuß hohem Wasser für mein Leben gezittert habe. Ich hüpfe vollends hinaus, kleide mich an und krieche heim, wo ich dann vorgeben muß, es habe mir kolossal gut getan und gefallen. Im gegenwärtigen Augenblick jedoch sprachen wir alle, als wollten wir jeden Morgen ein lang andauerndes Schwimmbad nehmen. Georg meinte, es sei so angenehm, von frischer Morgenluft im Boote aufgeweckt, sofort in das klare Wasser zu tauchen. Harris sagte, es gehe nichts über ein solches Schwimmbad vor dem Frühstück, um sich ordentlich Appetit zu machen. Er versicherte, es mache ihm immer Appetit. Georg aber sagte, wenn das Schwimmbad Harris noch mehr Appetit mache, als er schon ohnedies an den Tag lege, so verwahre er sich dagegen, daß Harris überhaupt jemals ein Bad nehme. Er meinte, all die Lebensmittel, die unser guter Harris zu seiner Verköstigung brauche, stromaufwärts zu schaffen, werde uns so schon sauren Schweiß genug kosten. Ich betonte indessen Georg gegenüber, wieviel netter es sein würde, Harris frisch und sauber gewaschen in unserer Mitte zu haben, auch wenn wir deshalb einige Zentner Lebensmittel mehr fortschaffen müßten; da begann er endlich die Sache in meinem Lichte zu betrachten und zog seine Opposition gegen Harris' Badevorsätze zurück. Wir kamen schließlich dahin überein, daß jeder sein eigenes Badehandtuch mitnehmen sollte, damit nicht einer auf den andern warten müsse. Was Kleidung anbetrifft, so glaubte Georg, zwei Flanellanzüge würden genügen, da wir sie ja selbst im Fluß waschen könnten, wenn sie schmutzig geworden seien. Wir fragten ihn, ob er denn schon einmal versucht habe, Flanell im Fluß zu waschen, worauf er erwiderte: »Das nicht gerade, aber ich kenne einige Leute, die es schon probiert haben; es macht sich ganz leicht!« Und Harris und ich, wir beide waren schwach genug, zu glauben, er verstehe etwas davon, und drei sonst ehrenwerte junge Leute, wenn sie auch weder Stellung noch Einfluß, noch irgendwelche Erfahrung im Waschen besäßen, könnten doch mit einem Stückchen Seife ihre Hemden und Hosen ganz gut in der Themse waschen. Wir sahen in der Folge – leider nachdem es zu spät war – ein, daß Georg uns schmählich betrogen hatte und augenscheinlich auch nicht das mindeste von der Sache verstand. Wenn ihr diese Kleider nachmals gesehen hättet, – doch ich greife vor, wie der Zeitungsreporter zu sagen pflegt. Georg bestand ferner darauf, daß jeder auch genügend Unterzeug und einen großen Vorrat an Socken mitnehme, für den Fall, daß das Boot umkippen sollte und wir unsern durchnäßten Anzug wechseln müßten, außerdem einen Vorrat an Taschentüchern, weil man damit auch das Geschirr abtrocknen könne, und ein paar Wasserstiefel außer unseren Bootschuhen, da wir deren benötigt sein würden, wenn das Boot kenterte. * Dann erörterten wir die Proviantfrage. Georg meinte: »Beginnen wir mit dem Frühstück. (Georg ist so praktisch.) Zum Frühstück müssen wir eine Bratpfanne haben.« Harris meinte, Bratpfannen seien schwer verdaulich, wir erwiderten ihm bloß, er solle kein Esel sein, und Georg fuhr fort: »Wir brauchen ferner einen Teetopf, außerdem einen Kessel und einen Spiritusapparat.« »Kein Erdöl,« sagte Georg mit einem bedeutungsvollen Blick, und Harris und ich stimmten zu. Einmal hatten wir uns eines Erdölherds bedient, aber »einmal und nicht wieder«. Die ganze Woche durch war es, als hausten wir in einem Erdölmagazin. Es floß. Es gibt gewiß auf der ganzen Welt kein heimtückischeres Naß, das so leicht durchsickert wie Petroleum. Wir hatten den Herd beim Schnabel des Boots aufgestellt, von da floß es herab zu den Rudern und drang in alles ein, was es auf seinem Wege antraf, ergoß sich in den Fluß und verpestete weit und breit die ganze Atmosphäre. Manchmal kam ein nach Erdöl duftender Wind von Westen, manchmal von Osten und ebenso von Nord und Süd. Ob er nun von den arktischen Schneefeldern oder über den Sand der Wüsten herstrich, immer duftete er nach Petroleum. Und dieser verdammte Duft verdarb uns den Sonnenuntergang, und – verflucht! – selbst der Mondschein roch nach Erdöl. In Marlow suchten wir aus seinem Bereich zu kommen. Wir verließen unser Boot an der Brücke und machten einen Spaziergang durch die Stadt, um den Geruch loszuwerden; aber es half nichts; er folgte uns. Die ganze Stadt roch nach Erdöl. Wir gingen über den Kirchhof; es schien, als ob man die Toten hier mit Petroleum einbalsamiere. Die Hohe Straße stank danach. Wir wunderten uns, wie die Leute das auf die Länge aushielten. Dann gingen wir stundenweit zu Fuß, Birmingham zu, aber es half uns nichts; die ganze Gegend war in Erdöl getaucht. Am Ende dieser Exkursion kamen wir um Mitternacht unter einer hohlen Eiche auf einem einsamen Felde zusammen, und da wurde nun das Petroleum feierlich verflucht (die ganze Woche hatten wir über die Sache nur in unserer gewöhnlichen, sanftmütigen Weise geflucht), aber jetzt ging dem Faß der Boden aus! Wir taten also einen feierlichen Schwur, niemals wieder Petroleum in einem Boot mitzunehmen, ausgenommen natürlich in einem Krankheitsfalle. Für den gegenwärtigen Fall beschränkten wir uns demgemäß auf einen Spiritusapparat. Das ist ja gewiß nicht das beste auf der Welt! Pasteten und Kuchen werden nach Spiritus schmecken, aber Spiritus ist – wenn auch in beträchtlicher Quantität genossen – immer noch zuträglicher für den Magen als Erdöl. Außerdem schlug Georg zum Frühstück Eier und Schinken vor, die leicht zu kochen seien, ferner kaltes Fleisch, Teebrot, Butter und Eingemachtes. Zum Gabelfrühstück, meinte er, könnten wir Biskuit, kaltes Fleisch, Butterbrot und Eingemachtes verzehren, aber ja keinen Käse. Der Käse ist wie's Petroleum zu aufdringlich. Das ganze Boot beherrscht er. Durch den Korb dringt er und macht, daß alles andere nach Käse schmeckt. Man kann nicht mehr unterscheiden, ob man Apfeltorte oder Braunschweiger Würste oder Erdbeeren mit Rahm unter den Zähnen hat. Es schmeckt alles wie Käse. In der Tat, Käse verbreitet einen zu starken Wohlgeruch! Ich erinnere mich eines Freundes, der einmal in Liverpool ein paar Käselaibe gekauft hatte. Prächtige Käse waren es, reif und mild, und mit ca. 200 Pferdekraft-Geruch ausgestattet. Und man hätte dafür garantieren können, daß sie drei Meilen weit rochen und einen Menschen auf 200 Meter Entfernung noch umgeworfen hätten. Ich hielt mich damals gerade in Liverpool auf; da sagte mein Freund zu mir, wenn er mich damit beschweren dürfe und es mir nichts ausmache, so möchte er mich bitten, sie mit mir nach London zu nehmen, da er erst in ein oder zwei Tagen zurückreise und fürchte, die Käse würden sich nicht länger halten. »O, mit Vergnügen, lieber Junge,« sagte ich, »mit dem größten Vergnügen.« Nachher fuhr ich in einer Droschke bei ihm vor, um die Käse in Empfang zu nehmen. Die Droschke war eine alte Mausefalle, gezogen von einem Hinkegaul, einem abgehetzten, schläfrigen Klepper, den sein Herr ein Pferd zu nennen beliebte. Ich placierte die Käse zum übrigen Gepäck aufs Kutschendach, und fort ging's, so eilig wie mit der Schneckenpost, bis wir um eine Ecke bogen; da blies der Wind plötzlich unserer Stute den Käsegeruch unter die Nase. Der hauchte ihr auf einmal Leben ein, so daß sie, vor Schrecken schnaubend, mit einer Schnelligkeit von drei Meilen in der Stunde davonjagte. Der Wind blies indessen in derselben Richtung fort, und ehe wir das Ende der Straße erreichten, hatte der Gaul schon eine Geschwindigkeit von vier Meilen in der Stunde erreicht; und während er es früher kaum mit Krüppeln und korpulenten alten Damen hatte aufnehmen können, ließ er die jetzt stolz weit hinter sich zurück. An der Station angekommen, bedurfte es zweier Schaffner und des Kutschers, um ihn anzuhalten, und ich glaube nicht, daß sie, obgleich ihrer drei, damit zustande gekommen wären, hätte nicht einer der Männer die Geistesgegenwart gehabt, sein Sacktuch über die Nase des Gauls zu binden und etwas Räucherpapier anzuzünden. Ich nahm ein Billett und marschierte mit meinen Käsen stolz auf dem Perron auf und ab. Das Publikum wich mir respektvoll aus. Der Zug wurde sehr voll, und ich kam in ein Kupee, in welchem sich bereits sieben andre Personen befanden. Ein alter, mürrischer Herr erhob Einspruch, aber ohne Erfolg; ich placierte meine Käse oben auf das Netz, klemmte mich dann mit verbindlichem Lächeln zwischen zwei Insassen und machte eine Bemerkung über das warme Wetter. Nach einer Weile wurde der alte Herr unruhig. »Die Luft ist hier sehr dumpf,« sagte er. »Zum Ersticken!« meinte der Mann neben ihm. Dann begannen beide zu schnüffeln, und als sie Lunte rochen, nahmen sie, ohne weiter ein Wort zu verlieren, ihre Sachen und gingen hinaus. Dann erhob sich eine umfangreiche Dame mit der Bemerkung, es sei eine Schande, wenn eine ehrbare, verheiratete Frau auf diese Weise ausgetrieben werde, – nahm ihren Reisesack und acht Pakete zu sich und ging ebenfalls hinaus. Die übrigen vier Mitreisenden blieben noch eine Weile sitzen, bis ein feierlich aussehender Herr – nach seinem Anzug und seinem Gebaren war er Totengräber – den Ausspruch tat, der Geruch hier erinnere ihn an Kindesleichen! Da rissen nun die drei anderen Passagiere mit solchem Ungestüm aus, daß sie sich gegenseitig ernstliche Verletzungen beibrachten. Jetzt wandte ich mich lächelnd an den schwarzen Herrn mit dem Bemerken, es scheine mir, als sollten wir das Kupee allein für uns haben; er lachte geschmeichelt und meinte, es sei sonderbar, wie doch manche Leute aus einer Kleinigkeit gleich eine Geschichte machen könnten. Aber auch dieser mein letzter Mitreisender wurde nach einer Weile sonderbar schwermütig gestimmt, so daß ich, als wir die Station Crewe erreicht hatten, ihn fragte, ob er nicht mit mir kommen und etwas zu sich nehmen wolle? Er nahm das an, wir erzwangen uns den Durchgang zum Büfett, wo wir lärmten und stampften und mit dem Regenschirm winkten, bis endlich nach einer Viertelstunde eine junge Dame kam und fragte, ob wir etwas wünschten. »Was nehmen Sie?« fragte ich meinen Reisegefährten. »Für 2,50 Mark Brandy, aber guten, Fräulein!« antwortete er, trank ihn, ging fort und setzte sich in ein anderes Kupee. Das kam mir denn doch gemein vor. Von Crewe an war ich Alleinbesitzer des Kupees, obschon der Zug ganz vollgepfropft war. An den verschiedenen Stationen war das Publikum, das mein Kupee beinahe leer sah, stets bereit, darauf loszustürzen. »Komm hierher, Maria, da ist noch Platz übrig.« – »Ja, ja, Thomas, da wollen wir hinein,« riefen sie dann wohl aus, rannten herzu mit ihren schweren Gepäckstücken und kämpften an der Wagentür um den Vortritt, bis jemand sie öffnete und einstieg, aber auch sofort in die Arme seiner Hintermänner fiel; und so kamen sie alle nacheinander und nahmen eine Nase voll; dann rafften sie eiligst ihre Siebensachen auf und drängten sich in andere Waggons, oder bezahlten die Differenz für die erste Klasse nach. Von der Euston-Station brachte ich die Käse in meines Freundes Haus. Als dessen Frau in das Zimmer trat, witterte sie einen Augenblick nach der Ursache des Geruchs; dann sagte sie: »Was ist geschehen? Sagen Sie mir das Schlimmste! Nur schnell.« Ich erwiderte ihr: »Es ist Käse! Tom, Ihr Gatte, kaufte ihn in Liverpool und ersuchte mich, ihn nach Hause zu bringen.« Und ich fügte hinzu, sie werde gewiß einsehen, daß ich unschuldig daran sei; worauf sie mir die beruhigende Versicherung gab, sie glaube das gerne, aber sie werde mit Tom darüber sprechen, wenn er heimkomme. Aber mein Freund wurde wider Erwarten lange in Liverpool aufgehalten; und drei Tage später, da er noch immer nicht zurück war, kam seine Frau zu mir und fragte: »Was sagte denn Tom betreffs dieser Käse?« Ich erwiderte ihr, daß er befohlen habe, man solle sie an einen etwas feuchten Ort bringen, aber sonst nicht daran rühren. »O! es wird nicht leicht jemand daran rühren,« erwiderte sie; »hat Tom daran gerochen?« »Ich denke wohl,« sagte ich, »er schien sehr dafür eingenommen.« »Glauben Sie,« fragte sie mich nun, »daß er sehr aufgebracht sein würde, wenn ich einem armen Teufel einen Sovereign gäbe, damit er sie fortschaffe und begrabe?« Ich entgegnete ihr, da würde sie wohl nie wieder ein Lächeln von ihm zu sehen bekommen. Da schoß ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. »Würde es Ihnen etwas ausmachen,« fragte sie, »sie für Tom aufzubewahren? Lassen Sie mich sie Ihnen zusenden!« »Madame,« antwortete ich, »was mich selbst anbetrifft, so mache ich mir nichts aus dem Käsegeruch, und meiner Reise mit den Käsen von Liverpool hierher werde ich mich zeitlebens mit Vergnügen erinnern, wie an das würdige Finale eines schönen Theaterstücks. Aber in dieser Welt müssen wir immer und überall auf andere Rücksicht nehmen. Die Dame, unter deren Dach ich zu wohnen die Ehre habe, ist eine Witfrau und, wie ich glaube, noch überdies eine Waise. Sie hat einen starken, ich kann sagen, beredten Widerwillen gegen alles, was sie eine Zumutung nennt. Die Gegenwart der Käse Ihres Herrn Gemahls würde ihr, das fühle ich instinktiv, als eine nicht geringe Zumutung erscheinen; und man soll niemals von mir sagen können, daß ich die Witwen und Waisen bedränge.« »Nun gut,« sagte meines Freundes Frau, indem sie sich erhob, »alles, was ich jetzt noch zu sagen habe, ist dies: Ich nehme die Kinder und ziehe mit ihnen in ein Hotel, bis diese Käse gegessen sind. Ich erkläre feierlich, daß ich nicht länger mit diesen Käsen unter einem Dache leben will.« Sie hielt Wort und überließ die Aufsicht über ihr Haus der Reinmachefrau, die auf die Frage, ob sie den Geruch ertragen könne, antwortete: »Was für einen Geruch?« Und als sie dicht zu den Käsen geführt wurde, um daran zu riechen, meinte sie, sie rieche etwas wie Melonen. Man schloß daraus, daß der Käsegeruch dieser Frau keinen großen Schaden bringen könne. Die Hotelrechnung kam auf 315 Mark zu stehen; somit fand mein Freund, als er alles zusammenrechnete, daß die Käse ihm ca. 8,50 Mark das Pfund gekostet hatten. Er sagte, er esse zu gern zuweilen ein Stückchen Käse, aber das gehe über seine Mittel; so entschloß er sich denn, sich der Käse zu entledigen. Er warf sie in den Kanal, mußte sie aber wieder herausfischen lassen, da die Leute in den Kohlenschleppern sich beklagten. Sie sagten, sie würden halb ohnmächtig von dem Geruch. Hierauf brachte er sie in einer dunklen Nacht auf den Kirchhof. Aber der Leichenschauer entdeckte sie und machte ihretwegen ein furchtbares Aufheben. Er behauptete, das sei ein Komplott, durch welches man ihn um Amt und Brot bringen wolle, da der heillose Geruch ja die Toten auferwecken müßte. Zuletzt wurde mein Freund sie los, indem er sie nach einem kleinen Seebade brachte und dort im Ufersand vergrub. Der Ort erwarb sich dadurch einen gewissen Ruf. Die Besucher bemerkten, daß die Luft früher nie solch starkwürzigen Seegeruch gehabt habe wie jetzt, und schwachbrüstige und lungenkranke Leute drängten sich jahrelang dahin. So sehr ich nun auch Käse mag, so stimmte ich doch mit Georg überein, lieber darauf zu verzichten. »Wir brauchen auch keinen Tee!« sagte Georg, – Harris machte ein langes Gesicht – »aber wir wollen um sieben Uhr abends eine nach allen Kanten regelrechte Mahlzeit haben, eine Mahlzeit, die zugleich Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen ist. Jetzt heiterte sich Harris' Gesicht wieder auf. Georg empfahl noch Braten und Obstpasteten, kalten Braten mit Tomaten, Früchte und Gemüse. Als Getränk würden wir den wunderbaren, klebrigen Extrakt mitnehmen, den Harris fabriziert hatte, welchen man nur mit Wasser zu mischen brauchte, um Limonade daraus zu machen. Dann viel Tee und überdies eine große Flasche Whisky für den Fall, wie Georg sagte, daß wir umkippen sollten. Es schien mir, Georg berührte diesen Punkt, das Umkippen, etwas zu oft; es dünkte mir dies ein böses Omen und eine Herausforderung des Schicksals. Bei alledem war ich froh über den Whisky. Wein und Bier wollten wir nicht mitnehmen. Bei einer Fahrt den Fluß hinauf wäre so etwas ein Mißgriff. Man wird dadurch so schläfrig und faul. Wenn man abends in der Stadt umherschlendert und nach den Mädchen ausschaut, da ist ein Gläschen ganz am Platze; aber meidet es, wenn euch die Sonne auf den Kopf scheint oder wenn ihr schwere Arbeit vorhabt! Nun machten wir eine Liste von all den Sachen, die wir mitzunehmen beschlossen hatten, – sie wurde allerdings ziemlich länglich; – hierauf schieden wir für den Abend. Am andern Tag, es war ein Freitag, trugen wir dann alles zusammen, und am Abend trafen wir uns wieder, um zu packen. Zu den Kleidern schafften wir uns einen großen Gladstonekoffer an, dazu ein paar Körbe für die Lebensmittel und die Kochgeräte. Wir stellten unsern Tisch gegen das Fenster und legten auf dem Stubenboden all die Sachen auf einen Haufen zusammen; hierauf setzten wir uns ringsherum und schauten ihn an. Dann erklärte ich, ich wolle packen. Ich bin etwas stolz auf meine Fertigkeit im Packen, müßt ihr wissen. Das Packen ist eine Kunst, welche ich nach meinem Dafürhalten besser verstehe als sonst irgendeine lebende Seele. (Ich erstaune oft selbst, wie viele Leute es gibt, die genau dasselbe meinen!) Ich suchte diese Tatsache Georg und Harris begreiflich zu machen und versicherte ihnen, sie würden besser daran tun, dies Geschäft gänzlich mir zu überlassen. Sie gingen auf diesen Vorschlag mit einer Bereitwilligkeit ein, die beinahe unhöflich war. Georg stopfte sich eine Pfeife und machte sich's auf dem Schaukelstuhl behaglich, und Harris streckte seine Beine auf den Tisch und brannte sich eine Zigarre an. Das war nun gewiß nicht meine Meinung gewesen. Ich wollte bei dem Geschäft nur die Oberaufsicht führen, und Harris und Georg sollten nach meiner Anleitung die Sache machen; ich würde sie dann ab und zu auf die Seite schieben mit dem Ausruf: »Geh' doch nur weg und laß mich das machen! Da schau' her, das ist doch gar nicht so schwer usw.« Auf diese Art hatte ich sie unterweisen wollen. So wie sie aber die Sache verstanden, war es mehr als ärgerlich. Ja! Nichts kann mich mehr ärgern, als wenn andere Leute mir zusehen, wie ich mich abarbeite. Ich lebte einst mit einem Menschen zusammen, der mich auf diese Weise bald aus dem Häuschen gebracht hätte. Er pflegte sich auf dem Sofa auszustrecken, mir stundenlang bei der Arbeit zuzusehen und mich mit den Augen bis in die entfernteste Ecke zu verfolgen. Er sagte, es tue ihm in der Seele wohl, mit anzusehen, wie ich in der kürzesten Frist ein Chaos um mich her verbreite. Dabei werde es einem so recht klar, daß das Leben denn doch kein eitler Traum sei, zum Durchgähnen oder Durchseufzen bestimmt, sondern eine edle Aufgabe voll ernster und schwerer Pflichten. Ja, er wundere sich heute, wie er vordem, ehe er mich gekannt habe, den Tag habe hinbringen können, ohne jemand zu haben, dem er hätte bei der Arbeit zusehen können. Ich gehöre nun nicht zu dieser Sorte Menschen, ich kann nicht stillsitzen und einen andern Menschen wie einen Sklaven sich schinden sehen. Ich muß aufstehen und, die Hände in den Taschen, um ihn herumgehen und ihm sagen, wie und was er tun soll. Ich mache mir kein Verdienst daraus. Ich kann einmal nicht anders. So verlangt es eben meine energische Natur. Indessen sagte ich nichts zu dem Gebaren meiner Kameraden, sondern arbeitete vorwärts; das Ding dauerte indessen länger, als ich zuvor gedacht hatte; zuletzt aber brachte ich es denn doch fertig, setzte mich auf den Koffer und schnallte ihn zu. »Willst du denn die Stiefel nicht auch einpacken?« fragte mich jetzt Harris. Ich schaute umher und überzeugte mich, daß ich sie vergessen hatte. Das sieht Harris ähnlich. Er hatte natürlich kein Wort vorher sagen können, ehe ich den Koffer geschlossen und zugeschnallt hatte. Und Georg lachte! – Es war solch ein zur Wut reizendes, unsinniges, unbändiges, unauslöschliches Lachen, eines, das mich ganz rabiat machen kann! Ich öffnete den Koffer noch einmal und packte die Stiefel hinein. Wie ich im Begriff war, ihn wieder zu schließen, kam mir der schreckliche Zweifel, ob ich auch meine Zahnbürste eingepackt habe. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist einmal so – niemals kann ich mich erinnern, ob ich meine Zahnbürste eingepackt habe oder nicht. Meine Zahnbürste ist ein Geschöpf, das mich wie ein böser Geist verfolgt, wenn ich auf Reisen bin, und mir das Leben verbittert. Es träumt mir mitten in der Nacht, daß ich vergessen habe, sie einzupacken; ich wache auf, in kaltem Schweiß gebadet, stehe auf und mache Jagd nach ihr. Am andern Morgen packe ich sie dann ein, ehe ich sie gebraucht habe, und nun darf ich sie wieder auspacken; gewiß ist sie dann bis zuunterst im Koffer und das letzte Stück, das ich auspacke. Dann packe ich wieder, nachdem ich Toilette gemacht habe, und vergesse nun richtig, sie wieder einzupacken, und im letzten Augenblick fällt mir's ein; dann muß ich noch einmal die Treppe hinaufrennen und muß sie, in mein Taschentuch eingewickelt, mit nach dem Bahnhof nehmen. Natürlich mußte ich auch im jetzigen Fall wieder den ganzen Kram auspacken, und natürlich war sie trotzdem nicht drin. Jetzt rumorte ich die Sachen in einer Weise untereinander, daß sie in einen Zustand kamen, in welchem sie wohl vor Erschaffung der Welt, als noch das Chaos regierte, gewesen sein mögen. Natürlich kamen mir Harris und Georgs Bürsten wohl zwanzigmal unter die Hände, aber die meine konnte ich nicht finden. Ich nahm ein Stück um das andere in die Hände, hielt's in die Höhe und schüttelte es – da kam sie zuletzt aus einem Stiefel heraus. Dann packte ich noch einmal zusammen. Als ich damit wieder fertig war, fragte Georg, ob auch die Seife drin sei, worauf ich ihm erwiderte, ich schere mich den Henker darum, ob die Seife eingepackt sei oder nicht; dabei schlug ich den Koffer zu und schnallte ihn fest. Dann fand sich's, daß ich meinen Tabaksbeutel eingepackt hatte, und so mußte ich noch einmal auspacken. Endlich um zehn Uhr fünf Minuten abends schloß und schnürte ich den Koffer zum unwiderruflich letztenmal. Dann waren noch die Körbe zu packen. Harris meinte, in nicht ganz zwölf Stunden sollte ja wohl unsere Abreise vor sich gehen; daher wäre es doch angezeigt, wenn er und Georg das übrige vollends besorgten. Ich erklärte mich damit einverstanden, setzte mich nieder, und nun kam an sie die Reihe. Die beiden machten sich an die Arbeit, als ob es nur ein Kinderspiel wäre, und wollten mich augenscheinlich belehren, wie man den Rummel machen müsse. Ich machte weiter keine Bemerkung darüber, sondern saß ganz still und wartete. Ich weiß, wenn Georg einmal gehenkt sein wird und Harris allein noch übrig, dann stellt sich heraus, wie miserabel der sich aufs Packen versteht. Und so schaute ich denn auf die Haufen von Tellern und Tassen, von Kesseln und Flaschen und Krügen, von Pasteten und Kochtöpfen, von Törtchen, Tomaten usw. in dem sichern Vorgefühl, daß die Sache nun bald recht anregend zu werden verspreche. Und das wurde sie. Meiner Freunde erstes Geschäft war, eine Tasse zu zerbrechen. Dann setzte Harris das Glas mit den eingemachten Erdbeeren auf eine Tomate und drückte sie zu Brei zusammen; da mußten sie die Tomate mit einem Teelöffel wieder herausscharren. Dann wollte Georg sich nützlich machen und trat aus Versehen auf die Butter. Ich sagte kein Wort, sondern rückte nur etwas näher, setzte mich auf die Ecke des Tisches und schaute ihrem Treiben zu. Das ärgerte sie weit mehr, als wenn ich sie ausgelacht hätte; ich fühlte es wohl. Ich merkte, daß sie dadurch nervös und aufgeregt wurden; denn sie traten auf dies und jenes, stellten die Sachen einmal da- und einmal dorthin, und konnten natürlich nie etwas finden. Sie packten die Pasteten zuunterst in die großen Körbe, setzten schwere Körbe und Schüsseln darauf, so daß die armen Pasteten wie eingestampft unten lagen. Die Salzdüte lief aus und ergoß ihren Inhalt über alles Eßbare, und was die Butter betrifft, – mein Gott, niemals sah ich zwei Menschen mit einem Pfündchen Butter mehr Unsinn treiben als diese beiden. Als Georg sie endlich von seinem Pantoffel losgebracht hatte, versuchte er, sie in den Teekessel zu stopfen. Aber sie wollte nicht hinein, und was schon darin war, das wollte nicht wieder heraus. Endlich kratzten sie sie doch heraus und legten sie auf einen Stuhl; Harris setzte sich darauf, da klebte sie ihm an den Hosen – und dann suchten sie sie in allen Ecken. »Ich will einen feierlichen Eid darauf ablegen,« sagte Georg, den leeren Stuhl anstarrend, »daß ich sie auf diesen Stuhl hier gelegt habe!« »Ich sah es,« sagte Harris, »mit meinen eigenen Augen; es ist noch keine Minute her.« Dann stöberten sie noch einmal in allen Ecken herum, kamen nach vergeblicher Suche in der Mitte des Zimmers wieder zusammen und starrten einander an. »Das ist doch die sonderbarste Geschichte, von der ich jemals gehört habe,« sagte Georg. »Es ist eine mysteriöse Geschichte,« meinte Harris. Dann kam Georg zufällig hinter Freund Harris zu stehen und entdeckte sie. »Ei, da hat sie ja die ganze Zeit über geklebt!« rief er voll gerechter Entrüstung aus. »Wo?« ruft Harris, indem er sich im Kreise dreht. »So steh' doch still!« brüllt Georg ihn an. »Kannst du nicht einen Augenblick stille stehen?« Endlich brachten sie sie los und packten sie in den Teetopf. Bei der ganzen Affäre war natürlich Montmorency auch beteiligt. Sein Ehrgeiz läuft darauf hinaus, einem überall im Wege zu sein und angefahren zu werden. Wenn er sich irgendwo hindrücken kann, wo man ihn am wenigsten braucht, wo er einen hinten und vorne hindert, so daß man toll werden möchte und ihm, was einem gerade unter die Hände kommt, an die Rippen wirft, dann ist er glücklich und mit sich selbst zufrieden, dann meint er, der Tag sei für ihn nicht verloren. Wenn er es dahin bringt, daß jemand über ihn stolpert und eine geschlagene Stunde über ihn flucht, dann ist sein höchstes Ziel erreicht, dann ist er stolz wie ein Spanier. Er kommt heran und setzt sich auf Sachen, die man gerade einpacken will; denn er trägt sich augenscheinlich mit der fixen Idee, daß, wenn auch immer Harris und Georg die Hand nach etwas ausstrecken, es nur seiner kalten feuchten Nase gelte. Er steckte seine Pfote in die Marmelade, spielte und nagte an den Teelöffeln, glaubte, die Zitronen seien Ratten, fuhr in den Korb und tötete drei davon, ehe Harris ihm mit der Bratpfanne eins versetzen konnte. Fünfzig Minuten nach Mitternacht war die Packerei vollbracht; Harris, auf dem großen Korb thronend, meinte, hoffentlich sei nichts zerbrochen, worauf ihm Georg erklärte, wenn etwas zerbrochen sei, dann sei es zerbrochen; mit welcher tiefsinnigen Erklärung er sich denn auch zu beruhigen schien. Ferner bemerkte er, daß es ihn jetzt nach Nachtruhe verlange. Harris sollte heute nacht bei uns schlafen, und so gingen wir hinauf nach dem Schlafzimmer. Georg fragte uns: »Um wieviel Uhr soll ich euch Burschen morgen früh denn wecken?« Harris sagte: »Um sieben Uhr.« Ich meinte: »Nein, um sechs,« weil ich noch einige Briefe zu schreiben hatte. »Wecke uns um halb sieben, Georg!« sagten wir nach längerem Streit. Georg aber gab keine Antwort mehr, und wir fanden, daß er schon seit einer Weile fest geschlafen haben mußte; so stellten wir ihm denn die Badewanne derart vor das Bett, daß er morgens beim Aufstehen hineinplumpsen mußte, und dann legten wir uns ebenfalls zur Ruhe. * Frau Poppets, unsere Wirtin, war es, die mich am andern Morgen weckte. Sie rief durchs Schlüsselloch herein: »Wissen Sie auch, daß es gleich neun Uhr ist, mein Herr?« »Neun, was?« rief ich aufspringend. »Neun Uhr,« wiederholte sie, »ich hab' gedacht, Sie täten sich verschlafen!« Ich weckte Harris und sagte ihm, daß es neun Uhr sei. Er murmelte noch ganz schlaftrunken: »Ich dachte, du wolltest um sechs Uhr aufstehen? Was?« »Ja, das wollte ich auch, warum hast du mich denn nicht geweckt?« »Ja, wie konnte ich dich denn wecken, wenn du mich nicht zuvor wecktest?« erwiderte er. »Jetzt kommen wir sicher vor zwölf Uhr nicht mehr aufs Wasser! Ich wundere mich nur, daß du bei solchen Aussichten überhaupt noch aufstehen magst!« »O, schwatz' nicht so dumm,« fuhr ich ihn an, »du solltest Gott danken, daß ich überhaupt aufstehe! Wenn ich dich nicht aufgeweckt hätte, so würdest du in vierzehn Tagen noch auf demselben Fleck liegen!« So knurrten wir uns noch eine Weile an, bis wir durch ein gewaltiges Schnarchen unterbrochen wurden. Es kam von Georgs Bett herüber. Wir wurden dadurch zuerst, seit man uns aufgeweckt hatte, an sein Dasein erinnert. Da lag der Mann, der gestern abend zu wissen begehrte, wann er uns wecken sollte, auf dem Rücken, mit weit offenem Munde und in die Höhe gezogenen Knien. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist einmal so, der Anblick eines schlafenden Menschen – wenn ich bereits auf bin – ärgert mich immer über die Maßen. Es kommt mir nichtswürdig vor, wenn ein Mensch die kostbaren Stunden seines Lebens, Stunden, die er niemals wieder zurückgewinnen kann, in solch tierischem Schlaf verschwendet. So warf dieser Georg in schändlicher Faulheit das unschätzbare Gut der Zeit hinweg, so schwand ihm sein kostbares Leben dahin, und doch würde er dereinst für jede Sekunde Rechenschaft abzulegen haben! Hätte er nicht ebensogut auf sein und sich mit Eiern und Speck vollstopfen, oder den Hund ärgern, oder mit der Aufwärterin schön tun können, anstatt in dumpfer, stumpfer Selbstvergessenheit dazuliegen? Es war ein schrecklicher Gedanke! Harris und mich überkam es zu gleicher Zeit. Wir entschlossen uns, ihn zu retten, und über diesem edlen Entschluß vergaßen wir unsern eignen Streit. Wir stürzten auf ihn los, rissen ihm die Decken weg, und Harris versetzte ihm eins mit dem Pantoffel, während ich ihm ins Ohr schrie. Endlich wachte er auf. »Wa – was gi – gibt's denn?« fragte er, sich erhebend. »Steh' auf, du dickköpfiger Faulpelz!« brüllte ihn Harris an, »es ist schon dreiviertel auf zehn.« »Was?« schrie er, indem er aus dem Bett in die Badewanne plumpste. »Wer zum Donner hat denn dies Ding hergestellt?« Wir fragten ihn, ob er denn blind sei, daß er die Badewanne nicht gesehn habe. Nun, endlich waren wir alle drei mit dem Ankleiden fertig, und als wir nun zu der Toilette im engeren Sinn kamen, da fanden wir, daß wir richtig die Zahnbürsten und den gemeinschaftlichen Kamm nebst Bürste eingepackt hatten – diese meine Zahnbürste wird noch mein Tod sein, ich will darauf schwören – und wir mußten wieder hinunter und sie aus dem Koffer herausfischen. Und als wir sie hatten, fehlte Georg das Rasierzeug. Wir erklärten ihm, er habe heute unrasiert unter die Leute zu gehn, denn wir würden jetzt seinetwegen oder wegen irgend jemands seinesgleichen nicht noch einmal auspacken. »So seid doch gescheit!« meinte er hierauf, »wie kann ich denn so in die City gehen?« Es war jedenfalls eine starke Zumutung für die City, aber was kümmerten wir uns um menschliches Elend. »Die City muß es eben verschnupfen,« meinte Harris in seiner rohen, gemeinen Weise. Wir gingen hinab zum Frühstück. Montmorency hatte sich noch zwei andere Hunde zum Abschied eingeladen, mit denen er sich einstweilen die Zeit durch eine Balgerei auf dem Flur vertrieb. Wir bändigten ihren Übermut mit einem Schirm und setzten uns dann zu Hammelkoteletten und kaltem Rindsbraten nieder. Harris meinte: »Die Hauptsache im Leben ist ein ordentliches Frühstück,« und so nahm er sich ein paar Koteletten; bei diesen heiße es zugreifen, solange sie heiß seien, der kalte Braten könne warten. Georg griff nach einer Zeitung und las uns daraus die Unfälle vor, die sich beim Bootfahren ereignet hatten, sowie die Wetterprophezeiung, nach welcher es regnerisches, kaltes, allmählich sich aufheiterndes Wetter geben würde, ferner außer sonstigen Unbilden da und dort ein örtliches Gewitter, steifer Ostwind mit allgemeinen Niederschlägen für die Gegend des mittleren Englands, sowie London und den Kanal – Barometer sinkend. Es ist meine unmaßgebliche Meinung, daß unter allen verrückten, widerwärtigen Bosheiten, von welchen die Menschheit geplagt wird, dieser Humbug mit den Wetterprophezeiungen einer der niederträchtigsten ist. Da wird gerade für heute das Wetter angekündigt, das den Tag zuvor herrschte, das gerade Gegenteil von dem, was in Wahrheit eintrifft. Ich erinnere mich, daß mir letzten Herbst einmal ein Feiertag total verdorben wurde, weil ich auf die Wetterprophezeiung in unserer Zeitung Rücksicht genommen hatte. »Heftige Regengüsse nebst Gewitter für heute zu erwarten,« hieß es an jenem Tage, und somit gaben wir unser beabsichtigtes Picknick auf, blieben den ganzen Tag über zu Hause und warteten auf den Regen. Währenddessen zog jung und alt zu Fuß und zu Wagen in heiterster Stimmung an unsrer Wohnung vorüber, und den ganzen Tag über lachte der schönste Sonnenschein und kein Wölkchen zeigte sich am Himmel. »Ah!« riefen wir schadenfroh aus, als wir sie unten so vorbeiziehen sahen, »wie werden die heute eingeweicht werden.« Und wir lachten in uns hinein bei dem Gedanken, wie naß sie werden würden, kehrten zum Kamin zurück, schürten das Feuer, holten uns Unterhaltungsbücher und ordneten unsere Seekräuter und Muschelsammlung. Gegen Mittag aber, als die Sonne immer noch so recht hell ins Zimmer strahlte, wurde die Wärme unerträglich, und wir fragten uns, wann denn wohl jene heftigen Regengüsse und gelegentlichen Gewitter eintreffen würden? »O, die werden am Nachmittag kommen, ihr werdet's schon sehen,« sagten wir zueinander. »O, wie werden die guten Leutchen naß werden. Das gibt einen Hauptspaß!« Um ein Uhr kam unsere Wirtin und fragte, ob wir denn heute nicht ausgingen, da es doch so wunderschönes Wetter sei. »Nein, nein!« gaben wir ihr mit bedeutungsvollem Kichern zur Antwort, »Wir nicht! Wir haben keine Lust, eingeweicht zu werden.« Und als der Nachmittag nahezu vorüber und noch immer kein Anzeichen von dem prophezeiten Regen zu bemerken war, da versuchten wir uns gegenseitig mit dem Gedanken zu trösten, daß das Gewitter auf einmal hereinbrechen würde, gerade wenn die Leute den Heimweg angetreten hätten, nirgends Schutz finden könnten und somit erst recht in die Patsche kommen würden. Aber es fiel kein Regen; der Tag blieb wunderschön, und eine prächtige sternklare Nacht folgte ihm. Den andern Morgen war zu lesen, daß das Wetter heute warm, schön und beständig sein werde; wir bekleideten uns demgemäß mit unsern leichtesten Anzügen und gingen aus; eine halbe Stunde später fing es an zu gießen wie mit Kübeln und ein schneidend kalter Wind fing an zu blasen, und beides hielt den ganzen Tag über an, so daß wir abends, mit Erkältungen und Rheumatismus behaftet, nach Hause zurückkehrten und schleunigst ins Bett krochen. Das Wetter ist überhaupt etwas, das über meinen Verstand geht; ich kann es nie begreifen. Das Barometer ist ein nutzloses Instrument; es ist so unzuverlässig wie die Wetterprophezeiungen. In einem Hotel in Oxford, wo ich mich dieses Frühjahr aufhielt, hing so ein Ding und zeigte auf »anhaltend schön« Wetter. Den ganzen Tag hatte es aber keinen Augenblick zu regnen aufgehört, und ich konnte die Sache nicht begreifen. Ich klopfte daran; da sprang das Quecksilber vollends bis auf »sehr trocken«. Als der Hausknecht vorbeiging und mich am Barometer arbeiten sah, meinte er, es wolle wahrscheinlich das Wetter für morgen anzeigen. Ich hingegen war der Ansicht, es wolle das Wetter anzeigen, das wir vor acht Tagen gehabt hätten. Am nächsten Morgen klopfte ich abermals daran, da stieg das Quecksilber noch weit mehr in die Höhe, und dabei regnete es in Strömen. Mittwochs, nachdem ich wieder daran geklopft hatte, stieg der Zeiger bis auf den höchsten Punkt – weit über anhaltend schönes, sehr trockenes und sehr heißes Wetter hinaus, bis ihn der Riegel anhielt, und es überhaupt nicht mehr weiter steigen konnte. Das Instrument tat gewiß sein möglichstes, aber es war eben so eingerichtet, daß es ohne Lebensgefahr das schöne Wetter nicht noch kräftiger anzeigen konnte. Es wollte augenscheinlich noch höher steigen und Dürre, Wassermangel, Sonnenstiche und Wüstenwinde markieren, aber glücklicherweise hinderte es der Riegel daran; daher mußte es sich wohl oder übel begnügen, sein alltägliches »sehr trocken« anzuzeigen. Aber die Regengüsse dauerten inzwischen ununterbrochen fort, und der untere Teil der Stadt wurde durch das Austreten des Flusses unter Wasser gesetzt. Der Hausknecht meinte, wir würden nächstens einmal lang anhaltendes schönes Wetter bekommen, aber das schöne Wetter kam jenen Sommer überhaupt nicht mehr. Ich glaube, das Instrument wollte das Wetter für das nächste Frühjahr ankündigen. Dann gibt es noch jene langgestreckten Barometer neuen Stils; aus diesen kann ich nun vollends nicht klug werden. Auf der einen Seite zeigt es das Wetter für zehn Uhr vormittags von gestern, auf der andern für zehn Uhr vormittags von heute an. Aber man kann doch nicht jeden Morgen schon um zehn Uhr am Wetterhäuschen stehen. Es steigt und fällt der Regen oder schönes Wetter mit mehr oder weniger Wind, und wenn man daran klopft, so zeigt es absolut gar nichts an. Und man muß es erst auf die Meereshöhe und auf Fahrenheit reduzieren – und dann gibt es erst recht keine Antwort! Aber wer braucht denn überhaupt das Wetter voraus zu wissen? Es ist doch in der Regel schlecht genug, wenn es kommt; wozu also schon vorher sich darüber abhärmen? Der liebste Prophet bleibt doch stets so ein alter Mann, der an einem besonders düsteren Morgen, an dem wir fürs Leben gern besonders schönes Wetter haben möchten, zuerst den ganzen Horizont mit kundigem Auge beschaut und uns dann sagt: »O, seien Sie unbesorgt, mein Herr, ich denke, es wird sich schon aufhellen. Es wird wahrscheinlich ganz gutes Wetter werden.« »O, der versteht sich darauf,« sagen wir zueinander, wünschen ihm guten Morgen und ziehen weiter; »Was doch diese alten Leute für gute Wetterpropheten sind!« Und wir bleiben dem alten Manne wohl zugetan, wenn sich seine Prophezeiung auch nicht bewahrheitet und es vielmehr den ganzen Tag ohne Aufhören regnet. »Ei nun,« denken wir, »er hat ja doch sein möglichstes getan!« Aber dem, der uns schlechtes Wetter richtig prophezeit hat, bewahren wir ein bitteres und rachsüchtiges Angedenken. »Denken Sie, daß es sich aufhellen wird?« fragt ihr fröhlich im Vorbeigehen. »Ich glaube kaum, mein Herr,« antwortet er mit Kopfschütteln, »ich glaube im Gegenteil, daß es den ganzen Tag so fortregnen wird.« »Dummkopf!« murmeln wir in den Bart, »was versteht der vom Wetter!« Und wenn seine Voraussage eintrifft und wir ihm auf dem Heimweg wieder begegnen, so sind wir noch mehr gegen ihn aufgebracht, fast als ob er etwas dafür könnte, daß es wahr geworden. Aber es war an diesem Morgen zu klar und sonnig, als daß uns Georgs herzbeklemmende barometrische Vorlesungen über »Barometer fällt – atmosphärische Störung in schräger Linie über Südeuropa hinziehend – Luftdruck verstärkt« usw. groß hätten aufregen können; als er fand, daß er diese seine Absicht nicht erreichte, stibitzte er mir eine Zigarette, die ich mir gerade sorgsam gedreht hatte, unter der Hand weg und ging davon. Dann schafften Harris und ich, nachdem wir mit dem Frühstück vollends aufgeräumt hatten, unsere Bagage an die Haustür und warteten auf eine Droschke. Es war ein wackerer Haufen Bagage, nachdem alles beieinander lag. Da war der große Gladstone-Koffer und der kleine Handkoffer, die zwei Körbe und eine große Rolle Pelze und Plaids, etwa vier oder fünf Überzieher und Regenmäntel und einige Regenschirme; dann war da noch ein Pack, das aus einer einzigen Melone bestand, die wir ihres großen Umfangs halber nirgends anders hatten unterbringen können, und in einem andern Korb hatten wir noch einige Pfund Trauben; da war ferner ein japanischer papierner Sonnenschirm und eine Bratpfanne, welche wir, da sie zum Einpacken zu groß und lang war, in braunes Packpapier eingewickelt hatten. Es war nicht zu bestreiten, es war ein recht ansehnlicher Haufen, und Harris und ich schämten uns ein bißchen; zwar kann ich es heute nicht einsehen, warum. Indessen keine Droschke zeigte sich, dafür aber ein Haufen Gassenjungen, die sich augenscheinlich für die Schaustellung interessierten und dicht bei uns stehen blieben. Biggs Laufbursche war der erste, der herankam. Bigg ist unser Nachbar, der Gemüsehändler, dessen Hauptkunststück darin besteht, sich immer die durchtriebensten Schlingel von Laufburschen, die die heutige Zivilisation ausgebrütet hat, für seinen Dienst anzuwerben. Wenn irgendein Gassenbubenstück in der Nachbarschaft ausgeführt wird, so kann man sicher sein, daß Biggs neuester Laufbursche dabei der Rädelsführer war. Man erzählte, daß bei dem furchtbaren Mord in der Coramstraße man in unsrer Straße sofort darüber einig gewesen sei, daß Biggs damaliger Junge der Hauptbeteiligte bei der Affäre gewesen sein müsse; und wäre er nicht imstande gewesen, sein Alibi beim Kreuzverhör Nr. 19 und Nr. 21, wo er am Morgen nach dem Verbrechen nach Bestellungen anfragen mußte, nachzuweisen, so wäre es ihm gewiß schlecht ergangen. Ich kannte damals Biggs Jungen noch nicht, aber was ich seitdem über ihn gehört habe, hätte mich nicht veranlaßt, seinem Alibi viel Wert beizulegen. Also Biggs Bube kam, wie gesagt, zuerst heran. Als er auf der Bildfläche erschien, hatte er es augenscheinlich sehr eilig, aber wie er Harris, mich, Montmorency und den ganzen Haufen Sachen erblickte, verlangsamte er seinen Trott und starrte uns an. Harris und ich schauten ihn durchbohrend wieder an; das hätte wohl eine sensitivere Natur aus der Fassung gebracht; aber Biggs Buben sind in der Regel nicht nervös. Er kam sogar noch einige Schritte näher, stand dann still, nahm sich einen Strohhalm vom Boden auf und kaute daran, indem er seine Augen fest auf uns haften ließ. Er wollte offenbar sehen, wie die Sache ablaufen würde. Einen Augenblick später kam der Junge des Spezereihändlers auf der anderen Seite der Straße daher. Biggs Bube rief ihn an: »He! 's Parterre von Nr. 42 zieht aus.« Der Junge kam sofort herbei und pflanzte sich auf der anderen Seite der Haustür auf. Dann hielt der Jüngling aus der Schusterbutike bei uns an und nahm festes Standquartier neben Biggs Jungen, während der Schenkbube aus der »Blauen Post« eine selbständige Stellung am Gartenzaun einnahm. »Die werden keinen Hunger leiden,« bemerkte der Schusterjüngling, »was meinst du?« – »Nun, du tätest doch sicherlich auch ein paar Sachen mitnehmen,« meinte der aus der »Blauen Post«, »wenn du in einem kleinen Boot nach Amerika schiffen wolltest.« »Die wollen nicht bloß nach Amerika rüber,« warf Biggs Bube ein, »die wollen nach Afrika und Stanley auffinden!« Inzwischen war der Haufen zu einer kleinen Volksversammlung angewachsen, und die Leute fragten einander, was es denn gebe. Ein Teil, nämlich der leichtfertige jüngere Teil, behauptete, es sei eine Hochzeit, und hielt Harris für den Bräutigam, während die Älteren und Verständigeren es für ein Leichenbegängnis hielten und mich wahrscheinlich für den Bruder des Leichnams ansahen. Nach langem Harren kam denn doch endlich eine leere Droschke daher. Sofort packten wir unsere Sachen und uns selbst hinein, teilten noch an ein paar von Montmorencys Freunden, die sich augenscheinlich verschworen hatten, ihn nie zu verlassen, freundliche Hiebe zum Abschied aus und fuhren dann unter dem Hallo der Menge davon, während Biggs Bube uns noch eine gelbe Rübe als gutes Omen nachwarf. Um elf Uhr erreichten wir den Waterloo-Bahnhof und fragten, von welchem Perron aus der 11.50 Uhr-Zug abginge. Natürlich wußte es niemand. Auf dem Waterloo-Bahnhof weiß nie jemand zu sagen, von wo ein Zug abgeht, oder wann ein Zug abgeht, wohin derselbe fährt, oder irgend sonst etwas über ihn. Nach langem, vergeblichem Suchen nach unserm Zuge konnten wir endlich mit Hilfe eines Trinkgeldes einen Zugführer bewegen, einen dastehenden Zug nach Kingston abgehen zu lassen. Später erfuhren wir, daß der Zug, mit dem wir gefahren waren, in Wirklichkeit der Postzug nach Exeter gewesen sei, daß man im Waterloo-Bahnhof stundenlang nach ihm gesucht, daß aber niemand etwas über seinen Verbleib zu sagen gewußt habe. Gerade unterhalb der Brücke bei Kingston lag ein Boot für uns in Bereitschaft; dorthin wandten wir unsere Schritte, und hinein stauten wir unsere Sachen, und hinein stiegen wir endlich selbst. – »Alles in Ordnung?« fragte uns der Bootvermieter. »Alles!« antworteten wir, und Harris ergriff die Ruder und ich das Seil des Steuers; Montmorency freilich fühlte sich unglücklich und hatte sich voll böser Vorahnungen am Vorderteil aufgepflanzt – so schossen wir hinaus in die Fluten, welche nun auf vierzehn Tage unsere Heimat sein sollten. * Es war ein herrlicher Morgen im Spätfrühling oder Frühsommer, wenn man sie lieber so heißen will, jene Tage, da das schwache Grün des Grases und des Laubes sich dunkler zu färben anfängt, da die Jahreszeit einem jungen Mädchen gleicht, das zitternd und mit heftiger schlagendem Pulse an der Schwelle der Weiblichkeit steht. Die altertümlichen, gegen den Fluß herabführenden Hintergäßchen Kingstons sahen, in helles Sonnenlicht getaucht, recht malerisch aus; dazu der schimmernde Fluß mit den Barken auf seinem Rücken; längs des Wassers auf der anderen Seite der schattige Leinpfad; darüber aus wohlgepflegten Gärten hervorschauende schmucke Villen, an den Rudern Harris in seinem rot und gelb gestreiften Flanellanzug, etwas vor sich hinbrummend; in der Ferne der altersgraue Palast der Tudors aus dem Laubversteck auftauchend – das alles zusammen bot ein so sonniges, farbenprächtiges, ein so lebensvolles und doch so friedliches Bild, daß ich, so früh es auch noch am Tage war, bald in eine träumerische Stimmung eingelullt wurde. Ich dachte über Kingston nach, oder vielmehr über Kyningeston (Königstein), wie man es zu jenen Zeiten nannte, da die sächsischen Könige hier gekrönt wurden. Hier setzte einst der große Cäsar über den Fluß, und die römischen Legionen lagerten sich auf dem zum Fluß sich senkenden Höhenzug. Cäsar – wie auch später Königin Elisabeth – scheint sich überall aufgehalten zu haben. Doch führte Cäsar sich hier respektabler auf als die gute Königin Beß und blieb nicht in den Kneipen hängen. Ja, diese jungfräuliche englische Königin hielt sich gerne in Kneipen auf. Zehn Meilen in der Runde um London gibt es kaum ein halbwegs anständiges Wirtshaus, wo sie nicht einmal entweder Umschau gehalten oder eingekehrt oder übernachtet haben soll. Ich möchte wohl wissen – gesetzt den Fall, Harris würde einen neuen Lebenswandel beginnen und ein großer und edler Mann werden und es bis zum Ministerpräsidenten bringen – ich möchte wissen, sage ich, ob man dann nach seinem Tode auch solche Inschriften an all den Schenken und Kneipen, die er seines Besuches würdigte, anbringen würde, lautend: »In diesem Hause trank Harris einen Bittern.« – »Im Sommer 1888 trank Harris hier zwei Glas Schottischen.« – »Im Dezember 1886 wurde Harris hier hinausgeschmissen« usw. – Nein, gewiß, es wären deren zu viele! Es würden sich vielmehr die Häuser berühmt machen, die er nicht besucht hat. – »Dies ist das einzige Wirtshaus in Süd-London, das Harris niemals besucht hat!« Die Leute würden dahin strömen, um die Ursache kennen zu lernen, welche Harris von dessen Besuch abgehalten haben könnte! – Wie muß nicht der schwachherzige König Edwyn dieses Königstein gehaßt haben! Das Krönungsfest war schon mehr, als er ertragen konnte. Kann sein, daß er den mit süßen Pflaumen gefüllten Eberkopf nicht gut verdaute – ich könnte es auch nicht, des bin ich sicher –, kann sein, daß er nicht noch mehr Sekt und Met trinken wollte, genug, er entwich von dem rauschenden Festmahl, um ein ungestörtes Mondscheinstündchen mit seiner geliebten Elgiva zu durchkosen. Vielleicht standen sie Hand in Hand an jenem Fenster und betrachteten des Mondes Silberstrahlen, wie sie auf dem Flusse erglänzten, während von der Halle herüber noch schwache, gebrochene Laute des dort herrschenden fröhlichen Lebens herübertönten! Dann dringen der brutale Odo und St. Dunstan gewaltsam ins friedliche Zimmer, schleudern der holden Königin grobe Beleidigungen ins Antlitz und schleppen den armen Edwyn zurück zur Stelle des Tumults und der rauschenden Lustbarkeit der Zecher. In späteren Jahren ertönte hier Schlachtgeschrei, und sächsische Könige und sächsische Zecher wurden hier Seite an Seite zum ewigen Schlafe niedergelegt. Kingstons Bedeutung sank eine Zeitlang in Vergessenheit, bis es später wieder in die Höhe kam, als Schloß Hampton Court die Residenz der Tudors und Stuarts wurde, als aus den königlichen Barken, die an den Ufern vorbeistreiften, Musik ertönte, die Herren vom Hofe in ihren hellen Mänteln die Wassertreppen hinunterstiegen und über den Fluß hinüberriefen: »He! Fährmann! He!« Viele von den alten Häusern ringsherum zeugen noch von den Tagen, da in Kingston das königliche Hoflager war, da Edelleute und Höflinge hier in der Nähe ihres Königs lebten, und der ganze lange Weg bis zu den Toren des königlichen Palastes von Sporen- und Schwerterklang und stolzer Rosse Tritt widerhallte und von schönen Damen in Samt und Seide wimmelte. Die großen, geräumigen Häuser mit ihren Galerien und Gitterfenstern, ihren großen Kaminen und Giebeldächern, alles dies erzählt noch heute von den Tagen, wo Kniehose und Samtwams, perlenbesetzte Brustlätze und weitschweifige Liebesschwüre in der Mode waren. Diese Häuser wurden errichtet, als die Menschen noch zu bauen verstanden; die harten, roten Ziegel sind durch die Länge der Zeit nur noch härter geworden, und die eichenen Treppenstufen krachen und knacken keineswegs, wenn man sie geräuschlos hinuntergehen möchte. Bei Erwähnung der Eichentreppen fällt mir ein, daß in einem der Häuser Kingstons sich ein prächtiges geschnitztes Treppenhaus befindet. Es ist am Marktplatz und war augenscheinlich einst der Herrensitz einer mächtigen Persönlichkeit. Ein Freund von mir, der in Kingston lebt, trat eines Tages in den Laden des Hauses ein, um sich einen Hut zu kaufen, und war so gedankenlos, ihn sofort bar zu bezahlen. Der Kaufmann, ein Bekannter meines Freundes, wollte natürlich zuerst seinen Augen nicht trauen; aber er kam bald wieder zu sich, und von dem Wunsch beseelt, durch eine besondere Erkenntlichkeit diese Art der Geschäftserledigung en vogue zu bringen, fragte er meinen Freund, ob er gerne eichene Schnitzereien ansehen würde. Da mein Freund bejahte, ging der Kaufmann mit ihm durch das Magazin und dann eine eichene Treppe empor. Das Geländer bestand aus einer wundervollen Schnitzarbeit! auch die Wand längs der Treppe war bis oben mit einer reichgeschnitzten Holzvertäfelung geziert, die einem Palast Ehre gemacht hätte. Von der Treppe aus gelangte man in den Salon. Das war ein großes, helles Zimmer, welches mit einer etwas auffallenden, aber freundlichen blauen Tapete bekleidet war. Sonst aber war nichts Merkwürdiges in dem Raum; daher wunderte sich mein Freund, warum man ihn hierher geführt habe. Der Eigentümer trat an die Tapete und klopfte daran. Es klang, als klopfe er auf Holz. »Eichen,« erklärte er ihm, »alles eichene Schnitzereien bis hinauf zur Decke, ganz im selben Stil wie an der Treppe.« »Aber um Himmels willen, Mensch!« rief mein Freund, »Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß Sie die eichenen Schnitzereien mit blauen Tapeten überkleidet haben! Was?« – »Doch!« lautete die ruhige Antwort, »es hat mich etwas gekostet, mußte es natürlich zuerst glatt und eben hobeln lassen. Aber jetzt sieht der Salon auch heiter und freundlich aus. Es war zuvor schrecklich düster!« Ich kann den Mann darob nicht allzustreng tadeln, was ohne Zweifel eine große Befriedigung für ihn sein wird. Von seinem Standpunkt aus betrachtet, der im Durchschnitt der Standpunkt der meisten guten Bürger sein wird, von dem Wunsche ausgehend, das Leben so leicht als möglich zu nehmen, und ohne alle Sammelwut des Altertumsforschers, ist sein Verfahren nicht so ganz unvernünftig. Geschnitztes Eichenholz ist jedenfalls recht hübsch, zum Ansehen, wenn man ein paar sehenswerte Stücke besitzt; aber für solche, die keinen Geschmack daran finden, ist es ohne Zweifel drückend, ganz und gar in Eichenholz zu leben. Es käme ihnen vor, als ob sie in einer Kirche wohnen sollten. Das Traurige in seinem Fall war, daß einer, der sich nichts aus Eichenschnitzereien machte, diesen damit gezierten Salon besitzen sollte, während Leute, die darauf aus sind, enorme Summen dafür bezahlen müssen. Das scheint aber auf dieser Welt die Regel zu sein. Jedermann hat, was er nicht braucht, und was er braucht, haben andre Leute. Verheiratete Leute haben Weiber und scheinen keine nötig zu haben. Junggesellen härmen sich, weil sie keine bekommen können. Arme Leute, die kaum für sich selbst den Lebensunterhalt erschwingen können, haben sechs bis acht Kindermäuler zu stopfen. Reiche alte Leute haben keine Seele, der sie ihren Reichtum vermachen könnten, und sterben kinderlos. Aber ich mag nicht bei diesen Gedanken verweilen. Sie stimmen einen so traurig. In unsrer Schule war ein Knabe, wir hießen ihn Sandford Merton.[Fußnote: Titel eines englischen Romans. Anm. des Übers.] Sein wirklicher Name war Stirvings. Er war der sonderbarste Kerl, der mir je im Leben begegnet ist. Ich glaube, daß er wirklich Neigung zum Studium hatte. Er bekam häufig furchtbare Vorwürfe, weil er im Bett zu sitzen und laut Griechisch zu lesen pflegte, und nichts auf der Welt konnte ihn abhalten, seine unregelmäßigen französischen Zeitwörter zu lernen. Er hatte allerlei unheimliche und unnatürliche Begriffe davon, wie er seinen Eltern und der Schule Ehre machen könne; er brannte danach, Preise zu gewinnen und dereinst ein gelehrter Mann zu werden, und steckte voll solcher Schrullen und schwachmütiger Gedanken. Wie gesagt, ein so seltsamer Kerl war mir noch niemals vorgekommen; dabei war er harmlos wie ein neugeborenes Kind. Nun, dieser Bube wurde mindestens zweimal in der Woche krank, so daß er die Schule nicht besuchen konnte. Überhaupt habe ich niemals einen andern Knaben so oft krank werden sehen wie diesen Sandford Merton. Wenn in einer Entfernung von zehn Meilen irgendeine Krankheit ausbrach, so bekam er sie gewiß, und obendrein im schlimmsten Grade. In den Hundstagen bekam er Lungenentzündung und Heuschnupfen zu Weihnachten. Nach einer Dürre von sechs Wochen konnte ihn ein rheumatisches Fieber darniederwerfen, und einmal bekam er während eines Novembernebels einen Sonnenstich. Einmal behandelte man den armen Kerl mit Lachgas, um ihm sämtliche Zähne auszuziehen, und setzte ihm ein falsches Gebiß ein, weil er so fürchterlich an Zahnweh litt; aber nun wurde Neuralgie daraus. Von Erkältungen war er nie frei, ausgenommen neun Wochen lang, während welcher er das Scharlachfieber hatte, und mit Frostbeulen war er Sommer und Winter geplagt. Während der großen Choleraepidemie im Jahre 1871 war unsere Nachbarschaft ausnahmsweise frei davon; in der ganzen Gemeinde war nur ein einziger Fall vorgekommen; es war der junge Stirvings. Er mußte gleich ins Bett, wenn er sich nicht mehr wohl fühlte, mußte Geflügel und süße Eierspeisen und Treibhaus-Trauben essen; da pflegte er denn allemal dazuliegen und zu seufzen, weil man ihm nicht erlauben wollte, seine lateinischen Exerzitien zu machen, oder weil man ihm seine französische Grammatik weggenommen hatte. Und wir andern nichtsnutzigen Buben, die wir gerne ein paar Jahre unserer Schulzeit geopfert hätten, um nur einen Tag lang krank sein zu dürfen, die wir entfernt nicht den Wunsch hegten, unsertwegen in unsern Eltern einen berechtigten Stolz zu erwecken – wir konnten nicht einmal einen steifen Hals bekommen. Wir setzten uns absichtlich dem Zugwind aus, aber er tat uns nur gut und erfrischte uns; wir aßen Sachen, die uns hätten seekrank machen sollen, aber sie machten uns nur dickleibig und erregten uns Appetit. Nichts war imstande, uns krank zu machen – bis die Ferien kamen. Da, unmittelbar nach Beginn derselben, bekamen wir Erkältungen und Keuchhusten und alle Arten von Übeln, und die dauerten bis zur Wiedereröffnung der Schule; dann wurden wir, trotz aller gegenteiligen Anstrengungen wieder wohl und so kräftig wie nur je. So ist das Leben! Und wir Menschen sind wie Gras, das gemäht und zum Dörren in den Backofen gesteckt wird. In diesem Augenblick warf Harris die Ruder weg, verließ seinen Sitz, warf sich auf den Rücken und streckte die Füße in die Höhe. Montmorency fing an zu heulen und schlug einen Purzelbaum; der oberste Korb kippte um, und alles fiel heraus. Ich war etwas erstaunt, aber ich verlor meinen Gleichmut nicht. Ich fragte Harris in ganz freundlichem Tone: »Holla! Was soll das bedeuten?« »Was das bedeuten soll? Ja –« Doch nein, wenn ich mir's recht überlege, so ist es besser, wenn ich nicht erzähle, was ich jetzt von Harris zu hören bekam. Ich mag ja Tadel verdient haben, ich gebe es zu – aber nichts entschuldigt doch die Heftigkeit und Gemeinheit der Ausdrucksweise eines Menschen, der, wie mir von Harris genau bekannt ist, eine sorgfältige Erziehung genossen hat. Ich hatte die ganze Zeit an andere Dinge gedacht und darüber, wie man sich leicht denken kann, vergessen, daß mir die Pflicht, unser Boot zu steuern, oblag, und infolge hiervon kamen wir in eine so intime Berührung mit dem Ufer, daß wir mit ihm verwachsen schienen. Es war im Augenblick wirklich schwer zu sagen, was wir und was das Flußufer war; aber wir fanden es nach einer Weile doch heraus, und endlich gelang es uns, die Selbständigkeit unseres Wesens zurückzuerlangen. Harris aber meinte, er habe jetzt genug geschafft, es sei nicht mehr als billig, daß ich jetzt ans Brett komme. So ging ich denn, nachdem wir wieder in Ordnung waren, hinaus, nahm die Riemen zur Hand und zog das Boot bis über Schloß Hampton Court hinaus. O, diese liebe alte Mauer, die sich da längs des Flusses hinzieht! Niemals gehe ich dort vorbei, ohne mich durch ihren Anblick gebessert zu fühlen. Sie hat solch einen weichen, hellen, herzigen Grundton, diese alte Mauer! Welch ein reizendes Bild müßte sie geben – hier von Flechten überzogen, dort von Moos überwachsen, da drüben wilde Weinrebe, die etwas scheu sich ihren Weg hindurchsucht, um von der Höhe der Mauer herabzuschauen, was auf dem geschäftigen Fluß alles vorgeht; und etwas tiefer der nüchterne, alte Efeu, in dichteren Ranken. Wenn ich nur zeichnen könnte und zu malen verstünde, ich wollte gewiß eine hübsche Skizze dieser alten Mauer zutage fördern. Oft schon habe ich gedacht, in Hampton Court möchte ich leben! Es schaut so ruhig und so friedvoll darein; es ist ein solch trauliches, altertümliches Nest, von dem aus sich die Umgegend so schön durchstreifen ließe, namentlich am frühen Morgen, ehe das Lärmen und Treiben der Menschen beginnt. Aber so ist's nun einmal! Wahrscheinlich würde ich keinen besonderen Geschmack daran finden, wenn mir der Wunsch in Erfüllung ginge. Am Abend wäre es so geisterhaft und bedrückend still, wenn die Lampe ihre unheimlichen Schatten auf die dunkel getäfelten Wände wirft und das Echo entfernter Tritte, bald näherkommend, bald in der Ferne verhallend, sich dumpf auf den kalten steinernen Fliesen des Korridors vernehmen läßt, bis alles wieder in das Schweigen des Todes zu versinken scheint – ausgenommen das Klopfen unseres eignen Herzens. Wir sind Geschöpfe der Sonne! Licht und Leben ist's, was wir alle brauchen. Darum drängen wir uns in die großen, volkreichen Städte und lassen das Land immer menschenleerer werden. Im Sonnenlicht am hellen Tage, wenn die ganze Natur belebt und alles ringsum geschäftig ist, da gefallen uns die grünen Hügel und tiefdunklen Wälder ganz gut; aber bei Nacht, wenn unsere Mutter Erde schlafen gegangen ist und uns wachend zurückgelassen hat – o, dann erscheint uns die Welt so einsam, da wird uns so bange wie den Kindern in einem verödeten Hause. Dann sitzen wir seufzend da und sehnen uns nach dem hellen Gaslicht der Straßen, nach dem Laut menschlicher Stimmen und nach dem Pulsschlag des Lebens. Wir fühlen uns so hilflos, so klein in der großen Stille, wenn nur die dunklen Bäume im Nachthauche rauschen. Überall umschweben uns Geister, deren leise Seufzer uns traurig machen. Darum rotten wir uns in unsern großen Städten zusammen, erhellen die Nacht mit Millionen Gasflammen, lärmen und singen – und fühlen uns mutig und tapfer. Harris fragte mich, ob ich schon jemals im sogenannten Labyrinth in Hampton Court gewesen sei. Er erzählte mir, er sei einmal drin gewesen, um jemand den Weg zu zeigen. Er hatte ihn auf einer Karte studiert und die Sache so einfach befunden, daß es wirklich nicht der Mühe wert schien, dafür noch zwei Pence Eintrittsgeld zu bezahlen. Harris aber behauptete nachher steif und fest, daß jene Karte nur zum Vexieren gemacht worden sei, denn sie habe dem wirklichen Labyrinth ganz und gar nicht entsprochen und nur fehlgeleitet. Harris wollte damals einer Base vom Lande das Labyrinth zeigen. »Wir wollen nur ein bißchen hineingehen,« sagte er zu ihr, »so daß du sagen kannst, du seist dort gewesen; aber das Ding ist sehr einfach. Es ist absurd, es ein Labyrinth zu nennen. Man braucht ja nur jedesmal den Weg zur Rechten einzuschlagen. Wir wollen etwa zehn Minuten darin herumgehen und dann draußen ein Gabelfrühstück einnehmen.« Gleich nachdem sie eingetreten waren, trafen sie einige Leute, die erzählten, sie seien schon drei Viertelstunden darin herumgegangen und hätten nun so ziemlich genug davon. Harris sagte zu ihnen, sie könnten ihm folgen, wenn sie wollten; er gehe jetzt gerade ein bißchen hinein, würde dann umkehren und bald wieder hinauskommen. Die Leute meinten, es sei sehr gütig von ihm, und schlossen sich ihm gerne an. Auf ihrem Wege hängten sich ihnen noch weitere Bummler an, die ebenfalls gerne wieder aus den Irrgängen herausgekommen wären, und zuletzt hatte Harris das ganze ins Labyrinth eingetretene Publikum in seinem Gefolge. Leute, die schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, jemals wieder den Ausgang zu finden und Heimat und Freunde wiederzusehen, faßten beim Anblick Harris' und seines Gefolges neuen Mut und vereinigten sich mit der Prozession, indem sie Gottes Segen auf Harris herabwünschten. Harris schätzte die Anzahl seines Gefolges auf mindestens zwanzig, und eine Frau mit einem kleinen Kind, die den ganzen Morgen darin gewesen war, ohne den Ausgang finden zu können, bestand darauf, ihn um seinen Arm zu bitten, aus Furcht, sie könnte ihn wieder verlieren. Harris hielt sich beständig nach rechts, aber es schien doch ein langer Weg, und seine Base meinte, es sei doch immerhin ein großes Labyrinth. »Ja!« sagte Harris, »eines der größten in Europa.« – »Es muß wohl so sein,« sagte seine Base, »denn wir sind jetzt schon eine gute halbe Stunde darin herumgeirrt.« Harris selbst fing an, es seltsam zu finden, aber er schritt noch immer tapfer vorwärts, bis seine Base beim Anblick einer am Boden liegenden halben Semmel sich verschwor, daß sie die schon vor etwa sieben Minuten hier habe liegen sehen! Harris sagte: »O! Das ist unmöglich!« Aber die Frau mit dem Kinde bestätigte es, indem sie hinzufügte, daß sie sie selbst dem Kinde weggenommen und hier weggeworfen habe. Sie klagte laut und wünschte, ihm niemals begegnet zu sein, und hielt ihn für einen offenbaren Betrüger! Jetzt wurde Harris wütend, zog seine Karte heraus und setzte seine Theorie auseinander. »Die Karte mag ja ganz richtig sein,« warf nun einer ein, »wenn Sie uns nur sagen könnten, auf welchem Punkt derselben wir jetzt sind?« Das konnte nun Harris nicht. Er schlug daher vor, wieder zum Eingang zurückzukehren und von dort aus die Wanderung noch einmal zu beginnen. Aber für den Wiederbeginn der Wanderung war unter seinem Gefolge kein großer Enthusiasmus; doch nach dem Eingang zurückzukehren, dazu war jedermann bereit, und so kehrte denn die ganze Prozession um und zog wieder hinter Harris drein, diesmal in entgegengesetzter Richtung. Weitere zehn Minuten waren so verstrichen, da befand man sich im Zentrum. Harris versuchte zuerst, seine Begleitung glauben zu machen, daß dies seine Absicht gewesen sei; aber die Menge blickte gefährlich drein, und so gab er dem Zufall schuld. Aber immerhin hatten sie nun einen sichern Punkt erreicht in der Erscheinungen Flucht, von wo aus man eine Richtung einschlagen konnte. Abermals wurde die Karte befragt, und die Sache schien einfacher als jemals, und zum drittenmal setzte sich die Karawane in Marsch. Und nach drei Minuten war man abermals im Zentrum. Jetzt konnte man überhaupt nirgend anders mehr hingelangen. Welchen Weg man auch einschlug, jeder führte zur Mitte zurück. Das war so regelmäßig der Fall, daß ein Teil der Versammlung hier wartete, bis der andere zurückkommen würde. Harris zog wieder seine Karte heraus, aber bei deren Anblick wurde der Pöbel wütend. Harris äußerte später mir gegenüber, er habe damals nicht umhin können, zu fühlen, daß er etwas unpopulär geworden sei. Zuletzt wurde die Menge wirklich wild und schrie nach dem Aufwärter; der Mann kam herbei, kletterte auf eine Leiter außerhalb des Parkes und kommandierte von dort aus, wie man zu gehen habe. Aber in all den Köpfen war es nachgerade so dumm geworden, als ginge ihnen ein Mühlrad darin herum, sodaß sie nun einfach gar nichts mehr begreifen konnten; daher befahl der Aufwärter ihnen, dort stehen zu bleiben, wo sie seien; er werde zu ihnen kommen. Da drückten sie sich zusammen und warteten; der Wärter kletterte wieder von der Leiter herab und kam herein. Wie es nun schon der Unstern wollte, war der Wärter frisch angestellt und noch etwas unbekannt im Geschäft; wie er nun drinnen war, konnte er die Leute nicht finden; und so wanderte er auf der Suche nach ihnen hin und her, bis er auf einmal verloren ging. Hin und wieder sah man ihn in der Ferne vorbeischweben, und die Menge trachtete ihm nahe zu kommen, indem sie der anderen Seite der Hecke zustrebte, wahrend er die größten Anstrengungen machte, sie zu erreichen; dann wartete der Haufen wiederum fünf Minuten lang auf ihn – bis er wieder an derselben Stelle wie zuvor sichtbar wurde und die Leute anrief, wo sie denn unterdessen gewesen seien. Sie mußten warten, bis einer von den älteren Aufwärtern von seinem Mittagessen zurückkehrte, ehe sie wieder heraus konnten. Harris meinte schließlich, es sei ein sehr schönes Labyrinth, soviel er beurteilen könne – und wir kamen überein, daß wir Georg auf unserm Rückweg hineinlocken wollten. * Harris erzählte mir diese Labyrinthgeschichte, während wir durch die sonst sehr belebte Schleuse bei Moulders fuhren. Ich habe manchmal dort gestanden und hinabgeschaut, wenn man keinen Tropfen Wasser mehr sehen konnte, sondern nur ein glänzendes Gewimmel von bunten Jacken, hellen Mützen, verwegenen Hüten, vielfarbigen Sonnenschirmen, seidenen Mänteln und Decken, flatternden Bändern und zarten, weißen Kleidern; und wenn man vom Quai in die Schleuse hinabsah, so erschien das alles wie eine ungeheuere Kiste, worin Blumen von allen Farben und Schattierungen, wirr durcheinander geworfen, in buntem Haufen beisammenlagen und jede Ecke ausfüllten. An einem schönen Sonntag bietet die Schleuse fast den ganzen Tag über diesen Anblick, während oberhalb und unterhalb der Fluß voll von Booten ist, die außerhalb der Schleusentore auf das Öffnen derselben warten. Und Boote kommen und gehen, so daß der sonnige Fluß vom Schlosse an bis hinauf zur Hamptonkirche gelb, blau, orange, weiß, rot und rosa gesprenkelt erscheint. Alle Einwohner von Hampton Court und Moulsey kleiden sich nämlich ausschließlich in Rudereranzüge, kommen mit ihren Hunden daher und bummeln um die Schleuse herum, kokettieren und rauchen und schauen nach Booten; und das alles zusammen, die Herren mit ihren bunten Mützen und Jacken, die Damen in ihren schönen, hellfarbigen Kleidern, die aufgeregten Hunde, die hin- und herschießenden Boote mit ihren weißen Segeln, die reizende Landschaft und das im Sonnenlicht glitzernde Wasser – all das zusammen bietet eines der heitersten Bilder in der Umgebung dieses düstern alten Londons. Ja! Der Fluß bietet eine gute Gelegenheit, mit seinem Anzug Staat zu machen. Auf dem Flusse haben wir Männer auch einmal Gelegenheit, unsern Geschmack in Farben zu zeigen, und meiner Meinung nach machen wir uns da gar nicht übel. Ich z. B. mag immer gern etwas Rot an mir – Rot und Schwarz zusammen. Ihr müßt nämlich wissen, mein Haar hat eine Art goldbrauner Farbe, eine ganz hübsche Schattierung, sagt man mir, und ein dunkles Rot macht sich wunderbar gut dazu; und dann denke ich immer, eine hellblaue Krawatte passe vorzüglich, sowie ein Paar juchtenlederne Schuhe und ein rotseidener Schal, um die Hüften gebunden; nebenbei bemerkt, ein Schal sieht immer viel feiner aus als ein Gürtel. Harris liebt Schattierungen oder Zusammensetzungen von Orange oder Gelb, aber ich bin nicht der Meinung, daß er wohl daran tut, seine Hautfarbe ist zu dunkel für Gelb. Gelb steht ihm nicht – das ist gar keine Frage. Ich wollte ihn veranlassen, Blau als Hauptfarbe zu wählen, Blau mit Weiß oder Creme. Aber so ist der Mensch. Je weniger einer Geschmack hat, um so hartnäckiger hält er an seiner Ansicht fest. Es ist recht schade, da er auf diese Weise niemals ordentlich aussehen wird, während er sich mit ein paar andern Farben gar nicht so übel ausnehmen würde, namentlich wenn er seinen Hut auf hat. Georg hat sich für unsere Exkursion auch einige neue Sachen angeschafft, die mich etwas ärgern. Seine Jacke hat eine schreiende Farbe. Ich möchte nicht, daß Georg diese meine Meinung zu wissen bekäme, aber ich kann nun einmal kein anderes Wort dafür finden. Er brachte sie – nämlich die Jacke – am Donnerstag nach Hause und zeigte sie uns. Wir fragten ihn, wie er denn diese Farbe nenne; er antwortete, er wisse es nicht. Er glaube überhaupt nicht, daß diese Farbe schon einen Namen habe; der Kaufmann habe ihm gesagt, es sei ein orientalisches Muster. Georg zog die Jacke an und fragte, wie er uns darin gefalle. Harris meinte, wenn das Ding im Frühjahr als Vogelscheuche in einem Gartenbeet dienen solle, so wolle er ihm gerne seine Reverenz machen, aber als Teil eines Anzugs für ein menschliches Wesen, einen Zulukaffer ausgenommen, mache sie ihn förmlich krank. Georg wurde ganz wild; aber Harris versetzte gleichmütig, warum er ihn denn gefragt habe, wenn er seine Meinung nicht hören möge. Was Harris und mich selbst in bezug auf genanntes Kleidungsstück beunruhigt, das ist, daß wir befürchten müssen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Auch die Mädchen sehen in einem Boot ganz passabel aus, wenn sie hübsch angezogen sind. Nichts ist nach meiner Meinung pikanter als ein geschmackvolles Bootkostüm. Aber ein »Bootkostüm« – wenn die Damen das doch nur verstehen möchten! – muß doch ein Kostüm sein, das in einem Boot getragen werden kann und nicht bloß in einem Glasschrank. Es verdirbt euch den ganzen Spaß an dem Ausflug, wenn ihr Leute im Boot habt, die die ganze Zeit mehr an ihren Anzug denken als an die Bootfahrt. Ich hatte einmal das Unglück, mit zwei Damen dieser Art ein Picknick auf dem Wasser zu unternehmen. Ja, das war ein schönes Vergnügen! – Sie waren beide prächtig angezogen, alles voll Spitzen und Seidenzeug und Blumen und Bänder; dazu feine Stiefelchen und helle Handschuhe. Zu einer photographischen Aufnahme wären sie jedenfalls geeignet gewesen, aber nicht zu einer Wasserpartie. Die Kleider waren genau nach dem »Bootskostüm« eines französischen Modejournals angefertigt. Es war einfach lächerlich, in solchen Anzügen überhaupt in Luft-, Wasser- und Erdennähe zu kommen. Das erste war, daß sie behaupteten, das Boot sei nicht sauber. Wir stäubten nochmals alle Sitze für sie ab und versicherten ihnen dann, daß es nun gewiß sauber sei, aber sie glaubten es nicht. Eine von ihnen strich mit dem behandschuhten Finger über das Sitzkissen und zeigte der andern das Ergebnis: beide seufzten und setzten sich dann nieder wie die leidenden Knechte Gottes, die sich vor dem Martyrium durch Blicke gegenseitig Mut zusprechen. Man kann doch nicht umhin, beim Rudern dann und wann ein paar Tropfen Wasser umherzuspritzen, und da zeigte es sich denn, daß ein Tropfen Wasser diese Anzüge ruinierte; der Flecken war nicht wieder aus dem Kleid zu entfernen, sondern blieb zeitlebens darin. Ich hatte die mittleren Ruder und tat mein möglichstes. Ich drehte die Ruder nur mit dem Handgelenk in einer Höhe von zwei Fuß und pausierte nach jedem Schlag, damit sie abtropfen konnten, ehe ich sie wieder eintauchte, und suchte mir zum frischen Einsatz ganz ruhiges glattes Wasser aus. Mein Hintermann sagte, als er mich so arbeiten sah, »er sei noch kein so erprobter Rudersmann, um es mit mir aufnehmen zu können, aber wenn ich es ihm erlaubte, möchte er etwas aussetzen, um meine Ruderart zu studieren«. Er sagte, es interessiere ihn so. Aber trotz alledem und alledem konnte ich nicht verhindern, daß dann und wann ein leichter Sprühregen jene Anzüge traf. Die Damen klagten nicht; aber sie drückten sich mit festgeschlossenen Lippen ganz nah aneinander, und jedesmal, wenn sie von einem Tropfen Wasser getroffen wurden, zitterten sie am ganzen Körper und schauderten. Es war in der Tat ein erhabener Anblick, sie so als stille Dulderinnen vor mir zu sehen, aber es entnervte mich vollständig. Ich weiß wohl, daß ich zu zartfühlend bin. Ich geriet in immer stärkere Aufregung; und je mehr ich das Spritzen zu vermeiden suchte, um so weniger gelang es mir. Zuletzt gab ich es auf und sagte, ich wolle jetzt am Schnabel rudern. Mein Hintermann meinte auch, es werde wohl besser sein, und so wechselten wir die Plätze. Die Damen stießen einen unwillkürlichen Seufzer der Erleichterung aus, als sie mich gehen sahen, und lebten für einen Moment ordentlich auf. Arme Mädchen! Sie hätten lieber mich behalten sollen. Der Mann, der nun meinen Platz einnahm, war ein lustiger, sorgloser, dickköpfiger Bursche, der ungefähr so viel Gefühl im Leibe hatte wie ein junger Neufundländer. Man hätte ihn stundenlang mit Blicken durchbohren können, er hätte es gar nicht einmal bemerkt, und wenn er es bemerkt hätte, so wäre er dadurch auch nicht aus der Fassung gekommen. Er setzte stets mit einem herzhaften Schlag ins Wasser ein, durch den es sich wie eine Fontäne über das ganze Boot ergoß, so daß sämtliche Insassen in die Höhe schreckten. Und wenn er auf diese Weise mehr als ein Viertelliter Wasser über eines der Kleider ausgoß, dann konnte er ganz täppisch dazu lachen und sagen: »O, ich bitte sehr um Vergebung,« und sein Taschentuch anbieten, um es abzutrocknen. »O, es tut nichts,« seufzten dann die armen Mädchen, zogen heimlich Decken und Mäntel über sich, und hielten ihre spitzenbesetzten Sonnenschirme vor, um sich gegen die Wasserschauer zu schützen. Beim Gabelfrühstück hatten sie wieder Unglück über Unglück. Man setzte sich am Ufer ins Gras: aber das Gras war erdig, und die Baumstämme, an welche sie sich anlehnen sollten, schienen mehrere Wochen lang nicht abgebürstet worden zu sein. So zogen sie denn ihre feinen Batisttaschentücher heraus, breiteten sie auf dem Gras aus und setzten sich darauf, aufrecht wie Ladestöcke. Dann kam einer mit einer Beefsteakpastete vorbei und stolperte über eine Wurzel, so daß die Pastete in die Weite flog. Zum Glück wurden sie nicht davon getroffen, aber diese neue Gefahr, die ihnen drohte, machte sie noch nervöser, als sie durch das bisher ausgestandene Vergnügen bereits geworden waren; und wenn irgend jemand mit irgend etwas in der Hand, das fallen und eine Zerstörung anrichten konnte, hin- und herging, so bewachten sie seine Schritte mit angstvollen Mienen, bis er sich wieder niedergesetzt hatte. – »Nun denn, ihr Mädchen,« sagte nachher, als alles vorbei war, unser Freund, der zweite Rudersmann, »jetzt kommt nur mit; das Geschirrspülen ist euer Geschäft!« Sie verstanden ihn zuerst nicht. Als sie endlich seine Meinung erfaßt hatten, meinten sie, sie wüßten nicht, wie man Geschirr abwasche. »O, ich will es euch schon zeigen,« rief er. »Das ist ein Kapitalspaß! Ihr lehnt euch über das Ufer und schwenkt die Sachen im Wasser hin und her. Seht, so!« Die ältere Schwester meinte, sie fürchte, ihre Kleider paßten nicht ganz zu diesem Geschäft. »O, das macht nichts,« meinte er gleichmütig, »steckt sie eben auf!« Und wohl oder übel mußten sie sich dazu bequemen. »Denn«, sagte er, »ohne das wäre ein solches Picknick nur ein halber Spaß!« Und sie meinten, »ja, es sei sehr interessant!« – Wenn ich jetzt über die Geschichte nachdenke, so überkommt mich doch ein Zweifel, ob dieser junge Mann wirklich so dickköpfig war, als wir dachten oder ob er ...? Nein, unmöglich, er schaute ja so arglos, so unschuldig drein wie ein Kind! Harris wollte bei der Kirche zu Hampton aussteigen, um das Grabmal der Frau Thomas anzusehen. »Wer ist denn diese Frau Thomas?« fragte ich. »Wie kann ich denn das wissen?« erwiderte Harris. »Es ist eine Dame, der man einen kuriosen Grabstein gesetzt hat, den ich sehen muß.« Ich erhob Einsprache. Ich weiß nicht, wie es kommt – vielleicht, daß man mich in meiner Kindheit schief gewickelt hat – aber für Grabsteine kann ich mich nun einmal absolut nicht erwärmen. Ich weiß wohl, wenn man ein Dorf oder ein Städtchen betritt, so gehört sich's, daß man gleich nach dem Kirchhof stürzt und sich an den Gräbern labt; aber diesen Genuß versage ich mir ganz konsequent; ich habe gar kein Interesse daran, bei frostigen, dunklen, alten Kirchen herumzustöbern und hinter einem hustenden alten Mann einherzugehen, um die Grabschriften zu entziffern. Nicht einmal eine in Stein eingelassene Messingplatte mit einer Inschrift kann mir das bieten, was ich wirkliche Glückseligkeit nenne. Ich bringe ehrwürdige Totengräber zum Entsetzen durch den unzerstörbaren Gleichmut, den ich beim Lesen solcher Inschriften zu zeigen imstande bin, und durch meinen totalen Mangel an jeglichem Enthusiasmus für die Familiengeschichten der hier Begrabenen; und meine schlecht verhehlte Begierde, wieder hinauszukommen, verwundet ihre Gefühle aufs tiefste. An einem strahlenden Sommermorgen lehnte ich einst an dem niederen Gemäuer, das eine kleine Dorfkirche umgab: ich rauchte meine Zigarre und sog mit tiefen Zügen die süße, ruhige Stille der ländlichen Umgebung in mich ein. Hier die altersgraue Kirche, von Efeu umsponnen, mit ihrer altertümlichen, geschnitzten Tür, dort das weiße Gäßchen, das sich zwischen Reihen hoher Ulmen hinabwand, während die Strohdächer der kleinen Häuschen des Dorfes über die wohlgepflegten Hecken hinauslugten, tiefer unten der silberne Strom, und jenseits die waldigen Hügel! Es war eine liebliche Landschaft, idyllisch, poetisch – ich fühlte mich dichterisch angeregt und wurde von guten und edlen Gefühlen überkommen. Ich fühlte keine Lust mehr zu sündigen und schlecht zu sein. Ich nahm mir vor, hierher zu ziehen, niemals wieder etwas Böses zu tun, ein sündloses, reines Leben zu führen und dann im Alter ehrwürdiges, silberweißes Haar zu bekommen – lauter schöne Dinge. Ja! In diesem Augenblick vergab ich all meinen Freunden und Verwandten ihre gegen mich verübten Bosheiten und Schlechtigkeiten und segnete sie. Sie wußten freilich nicht, daß ich sie segnete. Sie trabten auf ihrem gottverlassenen Lebensweg weiter, unbewußt dessen, was ich in weiter Ferne für sie tat und gelobte. Aber ich tat es dennoch und wünschte nur, ich hätte sie es wissen lassen können, damit sie sich darüber hätten freuen mögen. Wie ich mich nun solch edlen, erhabenen Gedanken hingab, wurde meine Träumerei auf einmal durch eine kreischende, ins Mark schneidende Stimme unterbrochen, die mich anrief: »Gleich, mein Herr! Gleich! Ich komm' ja schon! Ich komm' schon! Ja! 's ist ganz recht! Ich komm' schon! Pressieren Sie doch nicht so!« Ich schaute auf und sah einen alten, kahlköpfigen Mann auf mich zuhumpeln; er hielt ein riesiges Schlüsselbund in der Hand, das bei jedem Schritt klapperte und rasselte. Mit stiller Würde winkte ich ihm zu, sich zu entfernen, aber der Alte nahm keine Notiz davon, sondern fuhr fort zu krächzen: »Ja, ja! 's ist ganz recht, ich komm' ja schon! Ich bin eben nimmer so gut zu Fuß wie sonst! Da herüber, mein Herr, da herüber!« »Trollt euch fort, alter Bursche!« sagte ich unwillig. »Aber ich bin doch so geschwind gekommen, als ich hab' können, Herr! Meine Frau hat Sie eben in der Minute erst gesehen. Kommen Sie nur mit, Herr!« »Macht, daß ihr fortkommt!« wiederholte ich, »sonst klettere ich über die Mauer und schlage euch tot!« Er schien erstaunt. »Ja, wollen Sie denn nicht die Gräber sehen?« fragte er. »Nein!« antwortete ich ihm, »das will ich nicht. Ich will hier stehen und mich an diese alte verfallene Mauer lehnen. Geht fort und laßt mich in Ruhe. Ich bin gestopft mit schönen und edlen Gedanken und will sie festhalten, weil sie mich schön und gut dünken! Kommt mir nicht mit eurem Kram, sage ich euch, macht mich nicht wütend und verjagt mir nicht alle meine guten und schönen Gefühle mit eurem Grabsteinunsinn! Geht fort und seht, daß ihr jemand auftreibt, der euch um ein Billiges begräbt, dann will ich die Hälfte der Begräbniskosten bezahlen!« Einen Augenblick war der Alte ganz starr. Er rieb sich die Augen und glotzte mich an. Äußerlich erschien ich ihm ohne Zweifel noch so ziemlich ein Mensch, – aber er konnte nicht klug aus mir werden. Er sagte: »Sie sind wohl ein Fremder, leben nicht hierzulande?« »Nein,« sagte ich, »ich lebe nicht hier. Ihr würdet es auch nicht wünschen.« »Ei,« sagte er darauf, »so müssen Sie doch die Gräber, die Grabsteine sehen. Man hat hier Leute begraben, wissen Sie, hier gibt's Särge!« »Ihr seid ein Ungläubiger!« rief ich empört. »Ich will keine Gräber sehen, wenigstens nicht eure Gräber! Warum sollte ich auch? Wir haben unsere eigenen Gräber, unsere Familiengräber. Da ist mein Onkel Podger, der hat eine Grabstätte auf dem Kensal Green Kirchhof, die der Stolz der ganzen Gegend ist, und meines Großvaters Grabmal in Bow kann acht Bewohner fassen, und meine Großtante Susanne hat eine gemauerte Grabstätte im Friedhof zu Finchleg mit einem Grabstein, worauf etwas wie ein Kaffeetopf als Basrelief ausgehauen ist, mit einer Einfassung von sechs Zoll dickem Marmor, die viele Pfund Sterling gekostet hat. Wenn ich Gräber sehen will, so gehe ich dahin und vergnüge mich dort. Ich brauche anderer Leute Gräber nicht! Wenn ihr selbst einmal begraben seid, will ich kommen und euer Grab sehen; das ist alles, was ich für euch tun kann.« Der Alte brach in Tränen aus. Er sagte, eines von den Gräbern habe zu Häupten einen Stein, von dem jemand gesagt habe, es sei wahrscheinlich ein Stück einer menschlichen Figur, und auf einem andern Stein seien Worte eingegraben, die noch kein Mensch habe entziffern können. Aber auch das rührte mich nicht; mit herzbrechendem Tone fragte er nun: »So wollen Sie auch nicht mitkommen und das Gedächtnisfenster sehen?« Ich wollte auch das nicht sehen. Da verschoß er sein letztes Pulver. Er kam näher auf mich zu und flüsterte heiser: »In der Krypta drunten habe ich ein paar Schädel, die müssen Sie sehen. Kommen Sie nur und sehen Sie sich die an! Sie sind doch ein junger Mann und wollen sich einen lustigen Sonntag machen! So kommen Sie und sehen Sie sich die Schädel an!« Jetzt wandte ich mich und floh davon. Er aber rief mir noch immer nach: »Kommen Sie zurück und sehen Sie sich die Schädel an!« Harris dagegen schwärmt für Gräber, Grabsteine, Grabschriften und merkwürdige Inschriften, und der Gedanke, daß er das Grab der Frau Thomas nicht sehen sollte, machte ihn ganz kratzbürstig. Er sagte, er habe die Besichtigung schon in Aussicht genommen, als wir zuerst unsere Wasserfahrt besprochen hatten; ja, er behauptete, er würde gar nicht daran teilgenommen haben, wenn er nicht gedacht hätte, daß er bei dieser Gelegenheit das Grab der Frau Thomas zu sehen bekäme. Ich rief ihm unsern Georg ins Gedächtnis und erinnerte ihn daran, daß wir das Boot bis fünf Uhr nach Shepperton zu bringen hätten, um dort mit Georg zusammenzutreffen; da fing er an auf Georg zu schimpfen: »Was braucht denn Georg den ganzen Tag herumzulungern, so daß wir uns allein mit diesem verdammt schweren Boot abschinden müssen, um es den Fluß hinaufzuschaffen und richtig mit ihm zusammenzutreffen? Warum konnte Georg nicht kommen und auch etwas schaffen? Warum hatte er sich nicht für den Tag freimachen können, um zugleich mit uns die Fahrt anzutreten? Zum Teufel mit der Bank! Zu was ist er überhaupt auf der Bank nütze? Ich habe ihn dort noch nie etwas arbeiten sehen,« fuhr Harris fort, »so oft ich dahin gehe. Er sitzt den ganzen Tag hinter einem Glasfenster und gibt sich die Miene, als tue er etwas. Was nützt einem denn ein Mann hinter einem Glasfenster? Ich muß mir meinen Lebensunterhalt durch sauere Arbeit verdienen! Warum kann er nicht auch arbeiten? Wozu ist er nütze auf der Bank, und wozu sind Banken überhaupt nütze? Sie nehmen euch euer Geld ab, und wenn ihr dann einen Scheck einlösen wollt, so senden sie ihn euch zurück, ganz vollbeschmiert mit Worten wie: ›Keine Zahlung – zurück an den Aussteller!‹ Was kann denn das nützen! Einen solchen Streich haben sie mir letzte Woche zweimal gespielt; das ertrage ich nicht mehr lange, ich werde meine Einlagen zurücknehmen und mit der Bank abbrechen! Ja, wenn Georg jetzt da wäre, so könnten wir nun dieses Grabmal sehen. Ich glaube überhaupt gar nicht, daß er auf der Bank ist! Er wird irgendwo herumstrolchen, das wird seine ganze Beschäftigung sein! Jawohl! Und uns überläßt er inzwischen die ganze Arbeit mit dem vertrackten Boot. Ich gehe hinaus, ich muß eins trinken!« Ich bedeutete Harris, daß wir dermalen verschiedene Meilen von einem Wirtshause entfernt seien; da warf er seinen Haß auf den Fluß! »Wozu denn solch ein Fluß nütze sei, und ob denn alle, die ihn befahren, dazu verdammt sein müßten, vor Durst umzukommen?« Wenn Harris in diese Stimmung gerät, so ist es immer das beste, ihn gewähren zu lassen. Dann pumpt er sich leer und wird wieder ruhig. Ich erinnerte ihn daran, daß wir ja im Korbe kondensierte Limonade hätten, sowie einen Maßkrug Wasser im Vordersteven des Boots, und daß man diese zwei Stoffe nur zu mischen brauche, um einen kühlen, erfrischenden Trunk herzustellen. Da fing er an, über Limonade und derartiges Sonntagsschulgeläpper, wie er es nannte, loszuziehen, über Ingwerwein, Himbeersaft usw. Er meinte, all das Zeug verursache nur Magenverstimmung und verderbe Leib und Seele gleicherweise; die Hälfte all der Verbrechen, die in Kapland verübt würden, kämen auf ihre Rechnung. Er müsse nun aber absolut etwas zu trinken haben; mit diesen Worten kletterte er nach dem Vordersteven hinüber und suchte nach der Flasche. Sie war natürlich wieder zuunterst im Korb und schien etwas Schwierigkeiten machen zu wollen, und er mußte sich immer tiefer über den Korb beugen. Da er zu gleicher Zeit auch steuern wollte und über seinem Kramen im Korbe die Aussicht verloren hatte, steuerte er in der falschen Richtung, so daß das Boot ans Ufer anfuhr und einen Stoß empfing, der ihn kopfüber in den Korb hineinwarf. Während er die Beine gen Himmel streckte, hielt er sich wie der grimme Tod mit den Händen an beiden Seiten des Bootes fest und wagte nicht, sich zu rühren, aus Furcht, vollends über Bord zu fallen; in dieser Stellung mußte er bleiben, bis ich herangekommen war, ihn an den Beinen ergriff und zurückzog, was ihn natürlich noch wilder machte, als er ohnehin schon war. * Wir hielten unter den Weiden bei Kempton Park, um unser Gabelfrühstück einzunehmen. Es ist ein schönes Fleckchen Erde; eine anmutige ebene Wiese zieht sich am Wasser hin; Weiden hängen drüber her. Wir waren eben beim dritten Gange unserer Mahlzeit – Brot und Eingemachtem – angelangt, als ein Mann in Hemdärmeln und kurzer Pfeife daher kam und uns fragte, ob wir auch wüßten, daß unser Lager da ein gesetzwidriger Akt sei. Wir sagten, wir seien in unserer Betrachtung der Angelegenheit noch nicht so weit gediehen, um über diesen Punkt zu einem definitiven Schlusse kommen zu können; wir wollten aber, falls er uns sein Ehrenwort als Gentleman gebe, daß wir gesetzwidrig handelten, solches ohne weiteres Zögern glauben. Er gab uns die gewünschte Versicherung, und wir bedankten uns schön; aber sonderbarerweise lungerte er immer noch herum und schien nicht ganz befriedigt; da fragten wir ihn denn, ob wir ihm sonst noch mit etwas dienen könnten; und Harris, der gerne mit einem jeden anbandelte, offerierte ihm ein Stückchen bestrichenes Brot. Der Mann – anders kann ich mir die Sache nicht erklären – muß wohl zu irgendeiner Gesellschaft gehört haben, die sich verschworen, niemals bestrichenes Brot an die Lippen zu bringen, denn er wies es ganz mürrisch zurück, als ob er sich ärgerte, daß ihm eine solche Versuchung überhaupt nahegelegt worden sei, und er fügte hinzu, daß er uns austreiben müsse. Harris meinte darauf, wenn solches seine Pflicht sei, so solle es auch geschehen, und er fragte den Mann, was ihm wohl als die beste Art und Weise zur Ausführung besagter Maßnahme erscheine. Harris ist, was man so einen gut gebauten Mann – Größe Nr. 1 – nennt, und er schaut handfest und knochig drein; und der Mann maß ihn denn auch von oben bis unten und meinte, er müsse heim und seinen Herrn befragen; er würde dann zurückkommen und uns beide in den Fluß hineinspedieren. Natürlich ward er nicht mehr gesehen, und natürlich wollte er in Wahrheit nichts anderes als einen Schilling. Es gibt so eine Art uferbewohnendes Gesindel, das ein förmliches Geschäft daraus macht, während des Sommers an den Flüssen entlang zu schlendern und von schwachmütigen Dummköpfen auf diese Weise Geld zu erpressen. Sie spielen sich auf, als wären sie vom Eigentümer hergeschickt worden. Das richtige Verfahren ist in solchem Fall, seinen Namen und Adresse anzugeben und ruhig abzuwarten, bis der Eigentümer einen gerichtlich fordert und klaren Beweis und Rechnung über den Schaden liefert, den man seinem Grundbesitz dadurch zufügte, daß man auf ein paar Quadratzentimetern desselben gesessen. Aber die meisten Leute sind so intensiv träge und furchtsam, daß sie es vorziehen, die Betrügerei förmlich großzuziehen, dadurch, daß sie nachgeben, anstatt durch charakterfestes Auftreten dem Schwindel ein Ende zu machen. Trifft irgendwo aber in der Tat die Eigentümer selbst der Tadel, so sollten sie wahrlich an den Pranger gestellt werden. Die Selbstsucht der flüssebewohnenden Grundherrn wächst von Jahr zu Jahr. Wenn man den Gelüsten dieser Menschen freien Lauf ließe, so würden sie den Themsefluß ganz und gar absperren. Sie tun dies wirklich längs der kleineren Nebenflüsse und an den Seitenkanälen. Da werden Pfähle und Pfosten ins Flußbett getrieben und von Ufer zu Ufer Ketten gezogen und an jeden Baum riesige Plakatbretter angenagelt. Der Anblick dieser Plakattafeln ruft jeglichen bösen Trieb in meiner Natur wach. Mir ist's, als müßte ich jedes einzeln herunterreißen und dem Manne, der es aufsteckte, an den Kopf schlagen, bis ich ihn in ein besseres Jenseits befördert hätte; alsdann würde ich ihn begraben und das Plakat als Leichenstein auf sein Grab setzen. Ich teilte Harris diese meine Gefühle mit, und er sagte, er habe sie in noch weit erschreckenderem Grade. Er sagte, es sei ihm nicht nur, als müsse er den Mann umbringen, der die Tafel habe aufstecken lassen, sondern daß er dessen ganze Familie nebst allen seinen Freunden und Verwandten ermorden möchte, und alsdann würde er sein Haus niederbrennen. Das schien mir zu weit gegangen, und ich sagte dies zu Harris; aber er antwortete: »Keine Spur. Das geschähe ihnen gerade recht, und ich ginge hin und sänge etwas Humoristisches auf den Trümmern.« Ich erboste mich, daß Harris in diesem blutdürstigen Tone fortfuhr. Man sollte seinem Gerechtigkeitsgefühl nie erlauben, in bloße Rachsucht auszuarten. Es währte lange, bis ich Harris dazu brachte, die Sache von einem etwas christlicheren Standpunkt aus zu betrachten; aber es gelang mir zuletzt, und er versprach mir, auf alle Fälle die Freunde und Verwandten zu verschonen und nichts Humoristisches auf den Trümmern zu singen. Hättet ihr jemals Gelegenheit gehabt, Harris etwas Humoristisches singen zu hören, so würdet ihr begreifen, welch großen Dienst ich der Menschheit leistete. Es ist eine von Harris' fixen Ideen, er könne etwas Humoristisches singen; unter denjenigen seiner Freunde aber, die Harris den Versuch machen hörten, herrscht die fixe Idee, er könne es nicht und werde es niemals lernen, und man sollte ihm überhaupt verbieten, jemals wieder den Versuch zu machen. Wenn Harris bei einer Abendgesellschaft ist und aufgefordert wird, einen Gesang zum besten zu geben, so antwortet er: »Ja, wissen Sie, ich kann eben nur etwas Humoristisches singen;« das sagt er aber in einem Tone, der wohl zu verstehen gibt, daß, wenn er so etwas singe, es so wundervoll sei, daß man nur sagen könne: »Hör' dieses Lied und stirb!« »O, wie reizend,« sagt die Wirtin, »bitte, singen Sie eins, bitte, Mr. Harris,« und Harris steht auf und steuert dem Klavier zu mit der strahlenden Heiterkeit eines freigebigen Mannes, der eben im Begriff ist, jemand etwas zu schenken. »Nun, bitte um allgemeine Stille,« sagt die Dame des Hauses zu den übrigen gewandt: »Mr. Harris ist im Begriff, uns etwas Humoristisches vorzusingen.« »O, wie hübsch!« murmelt man, und man drängt vom Wintergarten herein, man kommt die Treppen herauf, man geht und holt die andern aus allen Winkeln des Hauses zusammen und drückt sich in den Salon, und sitzt ringsherum und strahlt vor lauter Erwartung. Dann fängt Harris an. – Nun, man verlangt nicht zu viel Stimme bei einem komischen Vortrag. Man erwartet weder korrekten Einsatz noch vollkommen reine Vokalisation. Man nimmt es dem Sänger nicht gar sehr übel, wenn er mitten in einer Note herausfindet, daß sie zu hoch ist, und mit einem Ruck herunterstürzt. Man nimmt es nicht so genau mit dem Takt. Man nimmt es nicht so genau, wenn der Sänger der Begleitung um zwei Takte voraus ist und dann mitten in der Zeile plötzlich innehält, um sich mit dem Klavierspieler auseinanderzusetzen und alsdann den Vers aufs neue zu beginnen. Aber man erwartet den Text zu hören. Man ist nicht darauf gefaßt, daß der Sänger nie mehr als die ersten drei Zeilen der ersten Strophe im Gedächtnis hat und diese immerfort wiederholt, bis es Zeit ist, daß der Chor einfällt. Man ist nicht darauf gefaßt, daß der Sänger mitten in der Zeile abbricht und kichert und sagt: »'s ist höchst sonderbar, aber beim Teufel! ich kann mich nicht weiter erinnern!« und dann probiert, ob er nicht selbst noch etwas dazuschustern kann, und dann nach einer Weile sich auf einmal wieder die Worte beifallen läßt, wenn er längst schon an einen ganz anderen Teil des Liedes gekommen ist, und dann ohne jede weitere Anzeige abbricht, zurückgeht und es euch zu hören gibt, mögt ihr's nun wollen oder nicht. Ich will geschwind ein Pröbchen von Harris' humoristischem Singen zum besten geben, und dann kann der geneigte Leser selbst urteilen. Harris (vor dem Klavier stehend und gegen das erwartungsvolle Auditorium gewandt): »Ich fürchte, 's ist ein etwas veraltetes Ding, wissen Sie. Ich vermute, Sie kennen es alle, wissen Sie. Aber 's ist das einzige Ding das ich kann. Es ist das Richterlied aus ›Pinafore‹ – nein, ich meine nicht ›Pinafore‹ – ich meine – nun, Sie wissen schon, was ich meine, das andere, wissen Sie. Sie müssen alle einfallen, um den Chor mitzusingen, wissen Sie.« Gemurmel des Entzückens und der Erwartung, den Chor mitzusingen. Brillantes Vorspiel zum »Richterlied« aus »Gerichtliches Verhör«, von einem nervösen Pianisten ausgeführt. Der Augenblick kommt, wo Harris einsetzen soll; Harris nimmt keine Notiz davon. Der Nervöse beginnt das Vorspiel von neuem, und Harris, der zu gleicher Zeit zu singen anfängt, stürzt sich auf die ersten zwei Zeilen des ersten Preisliedes aus »Pinafore«. Der nervöse Pianist versucht mit dem Vorspiel fortzufahren, gibt es aber auf und versucht Harris zum »Richterlied« aus »Gerichtliches Verhör« zu begleiten, findet aber, daß dies nicht dem Zweck entspricht, versucht herauszubringen, was er denn eigentlich tut und wo er ist, fühlt aber, daß ihm die Sinne vergehen, und hält inne. Harris (mit freundlich herablassender Aufmunterung): »'s ist ganz recht. Sie machen's ja ganz nett; wirklich, fahren Sie nur fort.« Nervöser Pianist: »Ich fürchte, es steckt da irgendwo ein Fehler. Was singen Sie doch nur gleich?« Harris (rasch): »Ei, das Richterlied aus ›Gerichtliches Verhör‹. Kennen Sie denn das nicht?« Irgendein Freund von Harris (aus dem Hintergrunde des Zimmers): »Nein, das singst du nicht, du närrischer Kauz, du singst ja das Admiralslied aus ›Pinafore‹.« Langer Streit zwischen Harris und Harris' Freund in bezug auf das, was Harris wirklich singt. Der Freund gesteht zuletzt seufzend ein, es sei einerlei, was Harris singe, wenn Harris nur die Gnade haben wollte, fortzufahren und es auch wirklich zu singen, und Harris, im Gefühl und mit dem Ausdruck beleidigter Unschuld, bittet den Pianisten, noch einmal anzufangen. Daraufhin beginnt der Pianist das Vorspiel zum Admiralslied, und Harris, sich eine Stelle zunutze machend, die er für einen Einsatz passend erachtet, beginnt. Harris: »Als ich vormalen jung war Und Jus studieren sollte.« Allgemeines Lachgebrüll, das von Harris als Kompliment aufgefaßt wird. Der Pianist, an Weib und Kind denkend, gibt den ungleichen Kampf auf und zieht sich zurück; seine Stelle wird von einem stärker besaiteten Menschen eingenommen. Der neue Pianist (heiter): »Wohlan, alter Junge, fangen Sie mal zuerst an und ich falle ein. Wir wollen uns nicht weiter mit dummen Vorspielen abgeben.« Harris (dem der wahre Sachverhalt langsam aufdämmert), lachend: »Bei Gott! Ich bitte Sie um Entschuldigung. Natürlich – ich habe die beiden Lieder untereinander gebracht. Aber Jenkins war es, der mich in diese Verwirrung stürzte, wissen Sie. Gut also, fangen wir an.« Singt; seine Stimme scheint aus dem Keller zu kommen und wie ein erstes dumpfes Grollen ein herannahendes Erdbeben anzuzeigen. »Als ich vormalen jung war, Da diente ich ein Vierteljahr Bei einem Anwalt grau von Haar,« (Beiseite zum Pianisten): »'s ist zu tief, alter Junge; wir wollen das noch einmal durchnehmen, wenn's Ihnen nicht drauf ankommt.« Er singt die drei ersten Zeilen noch einmal, diesmal in hohem Falsett. Große Verwunderung von seiten der Zuhörerschaft. Eine nervöse alte Dame beginnt zu weinen und muß hinausgeführt werden. Harris (fährt fort): »Und ich fegte die Fenster, die Türe rein, Und ich – Nein – nein, ich wusch die Fenster der Vordertüre rein und der Boden mußte gewichst sein – nein, zum Teufel – bitte tausendmal um Entschuldigung – kurios, daß mir die Zeile auch gar nicht mehr recht einfallen will. Und ich – und ich – o, gut, wir singen nun eben den Chor, und zwar wie's kommt. (Singt): Und ich diddel – diddel – diddel – diddel – diddel – de, Und bin jetzt Herr über unsere Marine. Frisch drauf, Chor – die letzten zwei Zeilen müssen wiederholt werden, wissen Sie.« Allgemeiner Chor: Und er diddel – diddel – diddel – diddel – diddel – de, Ist jetzt Herr über unsere Marine.« Und Harris kommt nie zur Einsicht, was für eine Rolle er spielt und wie er einen Haufen Leute langweilt, die ihm nie in ihrem Leben was zuleide getan. Er bildet sich wahr und wahrhaftig ein, er habe sie famos unterhalten, und sagt, nach dem Nachtessen singe er nochmal was Humoristisches. Apropos – humoristische Gesänge und Abendgesellschaften – da fällt mir ein ziemlich eigentümlicher Vorfall ein, dessen ich einstmals Zeuge war, und der, da er auf die innersten Vorgänge des menschlichen Seelenlebens viel Licht wirft, in diesen Blättern verzeichnet zu werden verdient. Es war eine elegante und feingebildete Gesellschaft. Wir waren im höchsten Wichs, sprachen so schön und waren alle so glücklich – ausgenommen zwei junge Menschen, Studenten, die eben aus Deutschland zurückgekommen waren. Diese jungen Alltagsmenschen schienen nicht gerührt von dem »allgemeinen Glück«. Sie machten Mienen, als komme ihnen alles, was vorgehe, recht hausbacken vor. Die Wahrheit zu sagen, wir waren ihnen viel zu schöngeistig. Unsere glänzende, aber gewählte Unterhaltung und unser feiner Geschmack gehörten einer höheren Sphäre an als der dieser jungen Leute, die entschieden nicht in unsere Gesellschaft paßten. Sie hätten sich nie hineindrängen sollen, das war hinterher die allgemeine Ansicht. Wir spielten Stücke aus den alten deutschen Meistern. Wir erörterten philosophische und ethische Probleme. Wenn wir kokettierten, so geschah es mit »Anmut und Würde«. Wir scherzten sogar mitunter – aber nur im höheren Stil. Nach dem Abendessen trug jemand ein französisches Gedicht vor, und wir fanden es wunderschön; dann sang jemand eine schwermütige Ballade in spanischer Sprache, die einige von uns zu Tränen rührte, so gefühlvoll war sie. Und nun erhoben sich diese zwei jungen Leute und fragten uns, ob wir jemals Herrn Slossem Boschen[Fußnote: Anspielung auf die für Engländer sehr schwierige Aussprache des Deutschen.] (der eben angekommen sei und sich zurzeit unten im Speisesaal befinde) sein großes deutsches humoristisches Lied vortragen gehört hätten. Niemand von uns konnte sich erinnern, es jemals gehört zu haben. Die jungen Herren sagten, es sei das komischste Lied, das jemals geschrieben worden sei, und wenn wir es gerne hören wollten, so würden sie Herrn Slossem Boschen, der ein guter Bekannter von ihnen sei, veranlassen, es zu singen. Sie sagten, es sei so lustig, daß einstmals, nachdem Herr Slossem Boschen es vor einem deutschen Fürsten gesungen, derselbe – nämlich der Fürst – habe weggetragen und ins Bett gebracht werden müssen. Niemand, sagten sie, könne das Lied so wiedergeben wie Herr Slossem Boschen. Er bleibe so ernsthaft während des ganzen Vortrags, als ob er eine Tragödie vortrüge, und das mache die Sache natürlich noch viel komischer. Weder durch Ton noch durch Miene, sagten sie, gebe er zu verstehen, daß er etwas Komisches singe, das würde der Sache Eintrag tun. Gerade seine feierliche Miene und sein ernsthafter Ton, der sich oft bis zum Pathos steigere, habe eine so unwiderstehliche Wirkung auf die Lachmuskeln. Wir sagten ihnen, wir brennten vor Begierde, ihn zu hören, und möchten uns gern einmal durch ein recht herzhaftes Lachen erfrischen; da gingen sie denn hinunter, um Herrn Slossem Boschen heraufzuholen. Er schien sofort bereit; denn er kam sogleich herauf und setzte sich, ohne sich weiter bitten zu lassen, ans Klavier. »O, wie wird es Sie belustigen, wie werden Sie lachen!« flüsterten die beiden jungen Leute uns zu, während sie durch das Zimmer gingen und bescheiden einen Platz hinter des Professors Rücken einnahmen. Herr Slossem Boschen begleitete sich selbst. Das Präludium verriet nicht gerade, daß etwas Humoristisches nachfolgen würde. Es war eine eigentümlich seelenvolle Melodie; sie machte einem förmlich die Haut schauern: aber das sei so die deutsche Art, flüsterten wir uns zu und gaben uns Mühe, die Sache heiter zu nehmen. Was mich anbetrifft, so verstehe ich nicht Deutsch. Ich lernte es zwar in der Schule, hatte aber nach zwei Jahren, nachdem ich die Schulbänke verlassen, glücklich wieder alles vergessen und mich seitdem viel wohler befunden. Dennoch fühlte ich gerade kein Bedürfnis, jetzt meine Unwissenheit an die große Glocke zu hängen; da kam mir ein nach meiner Meinung gescheiter Gedanke. Ich behielt die zwei Studenten immer im Auge und tat genau wie sie. Kicherten sie, so kicherte ich auch; lachten sie laut auf, so brach ich in ein wieherndes Gelächter aus; und obendrein lachte ich dann und wann ganz auf eigene Faust leise vor mich hin, als ob ich eine kleine Pointe entdeckt hätte, die den anderen entgangen. Ich tat mir was zugut auf diese Schlauheit. Im weiteren Verlauf des Vortrags glaubte ich zu bemerken, daß ein großer Teil der Anwesenden die beiden jungen Leute ebenfalls ins Auge gefaßt hatte. Sie kicherten auch, wenn die jungen Leute kicherten, und lachten laut auf, wenn sie laut auflachten oder gar in ein höllisches Gelächter ausbrachen. So ging die Sache eine Weile ganz flott. Und dennoch schien dem deutschen Professor etwas zu seiner Glückseligkeit zu fehlen. Als wir zuerst zu lachen anhuben, zeigten seine Mienen maßloses Erstaunen, als ob er eher des Himmels Einfall als unser Gelächter erwartet hätte. Das kam uns sehr komisch vor, wir sagten, sein ernsthaftes Aussehen gebe dem Spaß erst die rechte Weihe. Wenn er auch nur mit einem Augenzucken die Komik angedeutet hätte, so wäre der ganze Spaß verdorben gewesen. Da wir nun zu lachen fortfuhren, machte sein Erstaunen einem verdrießlichen und ärgerlichen Ausdruck Platz, und er schoß wütende Blicke auf uns alle, ausgenommen auf die beiden jungen Leute, die er nicht sehen konnte, weil sie dicht hinter ihm standen. Das war das Signal zu einem markerschütternden Gelächter. Wir glaubten, vor Lachen sterben zu müssen. Schon der Text, sagten wir, könnte einen in Lachkrämpfe versetzen, und nun obendrein sein komischer Ernst, o, es war überwältigend! Beim letzten Verse aber, da übertraf er sich selbst. Er blickte mit solch wilder Wut um sich, daß wir – wären wir nicht zuvor auf die deutsche Art, etwas Humoristisches zu singen, vorbereitet gewesen – gewiß Nervenzufälle bekommen hätten. Das eigenartige Musikstück endete dann mit solch hinsterbendem Klageton, daß wir gewiß in Tränen ausgebrochen wären, hätten wir nicht gewußt, daß es ein lustiges Stück sei. Unter donnerndem Lachgebrüll hörte er auf. Wir sagten, das sei das lustigste Lied, das wir je gehört, und wunderten uns, wie man angesichts solcher Lieder behaupten könne, die Deutschen hätten keine humoristische Ader! Und wir fragten den Professor, warum er denn das Lied nicht ins Englische übersetzte, damit auch ungebildete Leute es verstehen und einmal ein wirklich humoristisches Lied kennen lernen könnten? Da erhob sich Herr Slossem Boschen. Du lieber Gott, wie der loslegte! Er fluchte in seiner eigenen Sprache (nach meiner Meinung einer zu diesem Zweck ganz besonders geeigneten Sprache); dabei drehte er sich, die Fäuste ballend, wild im Kreise und warf uns all die englischen Ausdrücke, die ihm überhaupt zu Gebote standen, an den Kopf. In seinem ganzen Leben, behauptete er, sei er nicht so beleidigt worden. Es stellte sich jetzt heraus, daß das Lied nichts weniger als humoristisch gewesen. Es handelte von einer im Harzgebirge lebenden Jungfrau, die ihr Leben gelassen, um die Seele ihres Geliebten zu erlösen. Nach seinem Tode begegneten sich ihre Geister in der Luft; dann aber – im letzten Verse – verließ er sie und machte sich mit dem Geiste einer anderen davon; ich erinnere mich der Einzelheiten nicht mehr so genau – aber jedenfalls war es etwas sehr Trauriges. Herr Boschen behauptete, er habe das Lied einmal vor dem Deutschen Kaiser gesungen – der habe dabei geschluchzt wie ein kleines Kind. Er – nämlich Herr Boschen – sagte, es gelte allgemein als eine der tragischsten und rührendsten deutschen Balladen. Wir befanden uns in einer peinlichen, sehr peinlichen Lage. Vergeblich suchten wir nach einem Wort der Entgegnung. Wir schauten uns nach den beiden jungen Leuten um, die »all dies Herrliche vollendet«; aber sie waren unmittelbar nach dem Schluß des Liedes lautlos verduftet. So endigte jene Abendunterhaltung. Niemals habe ich eine Gesellschaft so ruhig, mit so wenig Aufheben aufbrechen sehen. Nicht einmal »Gute Nacht« sagten wir einander. Mit leisen Schritten stahlen wir uns auf der unbeleuchteten Seite der Treppe hinunter. Im Flüstertone ersuchten wir den Diener um unsere Hüte und Überröcke, schlüpften hinaus und verschwanden rasch um die nächste Ecke; jeder mied ängstlich den andern. Seit dieser Zeit habe ich mich niemals wieder für deutsche Lieder erwärmen können. Es war halb drei Uhr, als wir an der Sunbury-Schleuse ankamen. Unmittelbar vor dem Schleusentor ist der Fluß wunderlieblich und der Wasserarm zur Seite reizend; – aber versuche niemand, denselben aufwärts zu rudern. Ich versuchte es einmal. Ich war an den Rudern und fragte meine Gefährten, die am Steuer saßen, ob sie es für möglich hielten, hier durchzukommen. »Warum nicht?« meinten sie, »wenn du nur tüchtig ruderst.« Wir befanden uns gerade, als sie dies sagten, unter dem kleinen Fußsteig, der zwischen den beiden Wehren den Fluß überbrückt, und so bog ich mich über die Ruder und arbeitete aus Leibeskräften. Es war ein stolzes Rudern. Immer taktgemäßer wurden meine Schläge. Nicht nur mit den Armen ruderte ich; auch die Beine und der Rücken mußten mithelfen. Mein Ruderschlag wurde immer kräftiger, immer rascher, klatschender – es war großartig! Meine beiden Freunde meinten, es sei ein wahres Vergnügen, mir zuzusehen. Nach Verlauf von ungefähr fünf Minuten dachte ich, wir müßten nun nahe dem oberen Wehr sein, und schaute auf. Aber noch immer waren wir unter der Brücke genau an derselben Stelle wie vorhin, als ich zu rudern anfing. Und da saßen diese zwei Dummköpfe und wollten sich vor Lachen ausschütten. Mit meiner ganzen Plackerei hatte ich gerade so viel erreicht, daß das Boot unter der Brücke festsaß. Von da an überließ ich es anderen Leuten, bei starker Strömung einen Schleusenabfluß aufwärts zu rudern. Wir ruderten nun bis Walton, einem ziemlich ansehnlichen Orte, stromauf. Cäsar mußte in Walton natürlich eine kleine Niederlassung haben, ein Lager oder eine Verschanzung oder irgend etwas derartiges. Cäsar war ein eingefleischter Stromauf-Schiffer. Die Königin Elisabeth hat den Ort natürlich auch mit ihrem Besuch beehrt. Immer und überall, wohin man sich auch wenden mag, begegnet man ihren Spuren. Auch Cromwell und Bradshaw (nicht der Verfasser des großen Kursbuches, sondern König Karls bedeutendster Ratgeber) nahmen hier Aufenthalt. Diese alle beisammen müßten eine recht nette Gesellschaft gebildet haben. In der Kirche zu Walton befindet sich ein eiserner »Zaum für Zänkerinnen«. Mit diesem Ding pflegte man vor Alters Weiberzungen zu bändigen. Heutzutage hat man das aufgegeben; ich vermute, weil man nicht mehr genug Eisen beschaffen konnte und kein anderes Metall für den Zweck stark genug war. Auch sehenswerte Gräber befinden sich in der Kirche, und ich befürchtete schon, Harris werde sie sich nicht entgehen lassen; aber er schien nicht daran zu denken, und so fuhren wir weiter. Oberhalb der Brücke macht der Fluß eine Menge Windungen; das gibt der Landschaft etwas Malerisches; hat man aber ein Boot zu ziehen oder zu rudern, so machen sie einen nervös und veranlassen nicht gerade sanftmütige Auseinandersetzungen zwischen Ruderer und Steuermann. Zur Rechten zieht sich hier der Oatlandspark am Ufer hin. Es ist ein berühmter, alter Herrensitz. Heinrich VIII. stahl ihn von irgend jemand – es fällt mir nicht gerade ein, von wem – und residierte darin. Die verstorbene Herzogin von York, welche Oatlands bewohnte, war eine große Hundeliebhaberin und hielt sich eine ganze Menge dieser Vierfüßler. Sie ließ sich eigens einen Friedhof für sie anlegen; und hier liegen sie denn; ungefähr fünfzig Stück, von einem Grabstein, auf welchem eine Inschrift angebracht ist, überdeckt. Nun, vielleicht verdienen sie eine solche Ehrung ebensogut wie der Durchschnittschrist. Bei den »Corway«-Pfählen an der ersten Flußbiegung oberhalb der »Waltonbrücke« wurde zwischen Cäsar und Cassivelaunus eine Schlacht geschlagen. Cassivelaunus hatte sich für die Begegnung mit Cäsar vorbereitet und eine Menge Pfähle in den Fluß schlagen (und ohne Zweifel eine Plakattafel anbringen) lassen. Aber dessenungeachtet überschritt Cäsar den Fluß. Er ließ sich von diesem Flusse nun einmal nicht abtreiben. Er wäre der rechte gewesen, die Schleusenabflüsse hinaufzurudern. Halliford und Shepperton sind, von der Wasserseite aus gesehen, zwei hübsche kleine Orte; aber Sehenswürdigkeiten gibt es weder in dem einen noch in dem andern. Nur ein Grabstein mit einer poetischen Inschrift befindet sich im Friedhof zu Shepperton, und ich befürchtete daher, Harris werde aussteigen und sich dort herumtreiben wollen. Ich sah ihn sehnsüchtig nach der Landungsbrücke schauen, als wir uns ihr näherten; da gelang es mir, durch eine geschickte Bewegung seine Mütze ins Wasser zu werfen, und über seinem verzweifelten Versuch, sie wieder zu erlangen, und seinem Zorn über meine Ungeschicklichkeit vergaß er seine geliebten Gräber ganz und gar. Bei Weybridge ergießen sich der Wey, der Bourne und der Kanal von Basingstoke an derselben Stelle in die Themse. Die Schleuse befindet sich gerade der Stadt gegenüber, und das erste, was uns in die Augen fiel, als wir ihrer ansichtig wurden, war Georgs Jacke auf dem einen Flügel des Schleusentors, von der sich bei genauer Besichtigung herausstellte, daß Georg darin steckte. Montmorency brach in ein wütendes Gebell aus, ich kreischte, Harris brüllte; Georg schwang seinen Hut und schrie ebenfalls aus Leibeskräften. Der Schleusenwärter stürzte mit einem Rettungsseil heraus, da er glaubte, es müsse jemand in die Schleuse gefallen sein, und war nun ganz ärgerlich, daß dies nicht der Fall war. Georg hielt ein etwas Sonderbares, ein mit Wachstuch überzogenes Etwas in der Hand. An einem Ende war es rund und flach, und ein langer Stiel steckte daran. »Was ist das für ein Ding?« fragte Harris, »etwa eine Bratpfanne? Was?« »Nein,« erwiderte Georg, während sein Auge sonderbar wild aufleuchtete, »sie sind jetzt ungeheuer in der der Mode; den ganzen Fluß entlang werden sie von jedermann angeschafft: 's ist ein Banjo.« »Seit wann kannst du denn das Banjo spielen,« riefen Harris und ich in einem Atem. »Ich kann mich dessen nicht gerade rühmen,« erwiderte Georg; »aber man sagte mir, es sei sehr leicht zu lernen; und hier habe ich das Buch mit der ›Anleitung zum Selbstunterricht‹.« * Da wir nun Georg bei uns hatten, ließen wir ihn auch brav arbeiten. Er hatte natürlich gar kein besonderes Verlangen danach. Das versteht sich ja bei Georg von selbst. Er habe harte Arbeit in der City gehabt, erklärte er uns. Harris, der ziemlich hartherzig und mitleidlos ist, bemerkte: »Ganz recht; jetzt bekommst du zur Abwechslung harte Arbeit auf dem Fluß; eine Abwechslung bekommt jedermann gut. Hinaus mit dir!« Dagegen konnte Georg mit gutem Gewissen – wie weit sein Gewissen auch sein mochte – nichts einwenden, obwohl er vorbrachte, es möchte vielleicht besser sein, wenn er den Tee bereiten könnte, während Harris und ich das Boot zögen; denn die Teebereitung sei bekanntlich ein heillos schwieriges Geschäft und Harris und ich sähen doch recht ermattet aus. Die einzige Antwort, die wir ihm darauf gaben, war, daß wir ihm die Leine hinreichten; die nahm er denn auch und stieg aus. Es ist etwas Seltsames und Unberechenbares um eine solche Schleppleine. Da wickelt man sie mit so viel Sorgfalt auf, als gälte es, ein neues Paar Beinkleider zusammenzufalten, und fünf Minuten nachher, wenn man sie aufnehmen will, bildet sie ein spukhaftes, sinnverwirrendes Netz. Ich will mich gewiß jeder Beleidigung enthalten, aber ich bin fest überzeugt, daß, wenn man eine nur mäßig große Leine nähme, sie der Länge nach auf einer Wiese auseinanderlegte und dann, wär's auch nur auf eine halbe Minute, den Rücken kehrte, man sie sicherlich in der Mitte des Wiesenplans auf einen Haufen gewickelt, zusammengeflochten und in einen Knoten geschürzt finden würde, während die beiden Enden verloren gegangen und nichts als Schlingen und Schleifen zu sehen wären; und im nassen Grase sitzend würde es einen nun eine gute halbe Stunde Zeit kosten, sie wieder zu entwirren, wenn man es auch an den obligaten Flüchen gewiß nicht fehlen ließe. Das ist meine Meinung über Schleppleinen im allgemeinen. Es mag natürlich auch ehrenhafte Ausnahmen geben, ich will nicht behaupten, daß es deren keine gäbe. Es mag Leinen geben, die ihrem Beruf wirklich Ehre machen – gewissenhafte, rechtschaffene Leinen, welche sich nicht einbilden, sie seien Häkelarbeit, Leinen, die nicht versuchen, sich zu Fauteuilschonern zusammenzustricken, sobald sie einen Augenblick sich selbst überlassen sind. Ich sage, es mag solche Schlepptaue geben; ich hoffe und wünsche es sogar aufrichtig; aber vorgekommen ist mir ein derartiges bis jetzt noch nicht. Nun, ich hatte unsere Leine selbst eingezogen, gerade als wir vor der Schleuse angekommen waren. Ich wollte Harris nichts damit zu tun haben lassen, denn er ist so nachlässig. Ich hatte sie mit besonderer Sorgfalt aufgerollt, in der Mitte zusammengebunden, zwei Teile daraus gemacht und dann fein säuberlich auf den Boden des Boots niedergelegt. Dann hatte sie Harris mit mathematischer Pünktlichkeit aufgenommen und Georg in die Hand gegeben. Georg hatte sie mit festem Griff erfaßt und, während er sie etwas vom Leib hielt, begonnen, sie wieder abzuwickeln, und er tat dies so bedächtig, als ob er ein neugeborenes Kind aus den Windeln herauszuschälen hätte; aber noch ehe er auch nur ein Dutzend Meter abgewickelt hatte, sah das Ding eher einer schlecht gearbeiteten Strohmatte als irgend etwas anderem ähnlich. – So ist's immer, und was drum und dran hängt, ist auch immer so. Der Mann am Ufer, der bemüht ist, das Tau zu entwirren, denkt, die ganze Schuld der Verwirrung liege an dem, der es aufgewickelt hat, und – beim Bootfahren befragt man nicht erst das »Lexikon der feinen Sitte« – was er denkt, das sagt er auch. »Was hast du denn mit dem Ding da eigentlich machen wollen, he? Ein Fischnetz etwa? Da hast du eine schöne Suppe angerichtet, jawohl! Hättest du es denn nicht aufwickeln können, wie sich's gehört, du Schafskopf?« so grunzt er seinen Genossen von Zeit zu Zeit an, während er in wildem Kampfe mit dem Ding begriffen ist; dann legt er es auf dem Leinpfad weit auseinander und rennt darum herum, um eines der verlorenen Enden zu finden. Andrerseits ist der, der aufgewickelt hat, fest überzeugt, daß die Schuld an dem ganzen Wirrwarr nur an dem liegt, der es abwickeln sollte. »Es war ganz in der Ordnung, als du es in die Hand nahmst,« ruft er unwirsch. »Warum hast du den Kopf nicht bei der Arbeit? Wenn du etwas schaffst, so gibt's doch jedesmal eine Schlapperei! Du wärst imstande, einen Pfahl mit sich selbst zu verstricken.« Und sie werden so böse aufeinander, daß sie sich am liebsten an der Leine gegenseitig aufhängen würden. So gehen zehn Minuten vorüber; jetzt stößt der am Ufer einen Schrei aus und geberdet sich wie toll. Er tanzt auf dem Tau herum, greift nach dem ersten besten Stück und zieht und zerrt daran, so stark er kann. Natürlich wird der Knoten dadurch nur noch fester. Da springt der zweite Mann aus dem Boot ans Ufer, um ihm zu helfen; hierbei geraten sie einander in den Weg und hindern sich gegenseitig. Sie ziehen beide an dem nämlichen Strang der Leine, aber in entgegengesetzter Richtung, und dabei wundern sie sich, wo es nun wieder festhält. Zuletzt bringen sie es doch noch auseinander, dann sehen sie sich nach dem Boot um und entdecken, daß es mittlerweile davon getrieben ist und geradenwegs auf das Wehr zusteuert. Dies ist kein erfundener Vorgang, sondern einer, von dem ich selbst einst Augenzeuge war. Wir befanden uns bei Boveney. Es war ein etwas windiger Morgen; stromabwärts fahrend, bemerkten wir bei einer Krümmung des Flusses zwei Menschen am Ufer. Sie schauten einander mit solch bestürzten Blicken, mit solch unsäglich hilflosem Ausdruck an, wie ich ihn vorher und nachher nie wieder in einem menschlichen Antlitz gesehen habe. Sie hielten eine lange Schleppleine in Händen. Offenbar war ihnen etwas zugestoßen; daher steuerten wir nach dem Ufer und fragten, was geschehen sei. »Ei, unser Boot ist auf und davon,« gaben sie ganz beleidigt zurück. »Wir sind nur eben ausgestiegen, um das Tau zu entwirren, und wie wir uns umschauen, ist das Boot futsch!« Und sie schienen entsetzlich beleidigt über dies gemeine und undankbare Benehmen ihres Bootes. Wir fanden den Deserteur eine halbe Meile weiter unten im Röhricht festsitzen und brachten ihn den Leuten zurück. Ich wette, was ihr wollt, eine Woche lang haben sie gewiß dieses Boot keines Blickes mehr gewürdigt. Niemals werde ich das Bild wieder vergessen, das diese beiden Männer darboten, wie sie, das Tau in der Hand, am Ufer auf und ab gingen und nach ihrem Boot ausschauten. Man erlebt doch manch lustiges Stückchen in bezug auf die Bootschlepperei, wenn man so den Fluß befährt. Eines der gewöhnlichsten ist der Anblick eines ziehenden Paares, das, in eine lebhafte Unterhaltung vertieft, machtvoll vorwärts strebt, während der Mann im Boot bei etwa einhundert Meter Abstand sich vergeblich heiser schreit, daß sie halten sollen, und als Notsignal wie wahnsinnig mit dem Ruder um sich schlägt. Etwas muß da passiert sein; entweder hat sich das Ruder aus den Angeln gelöst oder der Boothaken ist über Bord geglitten, oder der Hut ihm ins Wasser gefallen und schwimmt eilends davon. Er ruft ihnen zuerst ganz sanft und höflich zu, anzuhalten; dann immer noch ganz liebreich: »He! Haltet einen Augenblick an, mein Hut ist ins Wasser gefallen!« Dann »He! Thomas, Richard! Hört ihr nicht?« Diesmal klingt's schon nicht mehr ganz so gemütlich wie vorhin. Darauf aber: »He! Hallo! Wenn euch doch der Teufel holte, ihr dickköpfigen Rindviehcher! He! Haltet doch! O, wäret ihr doch –!« Dann springt er auf und ärgert sich brandrot und flucht alle Flüche, die er jemals gehört hat. Und die kleinen Buben am Ufer bleiben stehen und verhöhnen ihn und werfen Steine nach ihm, während er mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen die Stunde an ihnen vorbeigezogen wird und das Ufer nicht gewinnen kann. Viel solcher Mühsal und Ärger könnte verhindert werden, wenn die Leute an der Leine, eingedenk, daß sie ein Boot ziehen, fleißig zurückschauen wollten, um sich zu überzeugen, was der Insasse des Bootes macht. Am besten ist's, nur eine einzelne Person ziehen zu lassen. Ziehen ihrer zwei, so fangen sie sicher an zu schwatzen und vergessen alles um sich her, und das Boot selbst, das nur geringen Widerstand leistet, erinnert sie nicht leicht an sein Dasein. Als ein Beispiel, wie solch einem ziehenden Paare die ganze Welt entrückt zu sein scheint, erzählte uns Georg später am Abend, als wir nach dem Nachtessen den Gegenstand noch einmal erörterten, einen ganz merkwürdigen Fall. Er und drei andre junge Leute, so erzählte uns Georg, hätten einmal abends von Maidenhead aufwärts ein sehr schwer beladenes Boot gerudert, und ein wenig oberhalb der Cockham-Schleuse hätten sie einen jungen Mann und ein Mädchen bemerkt, die auf dem Leinpfad in eine augenscheinlich höchst interessante Unterhaltung vertieft dahinschritten. Sie hielten miteinander einen Boothaken in Händen; an demselben war eine Leine befestigt, die ein Stück im Wasser hinter ihnen herschleifte. Aber weit und breit war kein Boot zu selben. Es mußte doch wohl einmal ein Boot an dieser Leine befestigt gewesen sein; aber was daraus geworden, welch schreckliches Schicksal es mit seinen Insassen ereilt hatte, das war in unerklärliches Dunkel gehüllt. Was sich aber auch immer ereignet haben mochte, das Paar am Boothaken war davon unberührt geblieben. Sie hatten ja den Boothaken und die Leine, und alles weitere schien ihnen zu ihrem Geschäft überflüssig. Georg wollte sie eben anrufen und aus ihren Träumereien aufwecken, da schoß ihm ein guter Gedanke durch den Kopf, und er unterließ das Schreien. Statt dessen nahm er seinen Haken zur Hand und fischte damit das Ende der Leine aus dem Wasser in sein Boot und befestigte sie mit Hilfe seiner Gamaschen am Mast. Dann zogen sie ihre Ruder ein, machten es sich am Hinterende des Bootes bequem und zündeten ihre Tabakspfeifen an. Georg meinte, er habe nie zuvor eine solch gedankenschwere Traurigkeit durch einen einzigen Blick ausgedrückt gesehen, wie damals, als das junge Paar an der Schleuse Halt machte und zu der Wahrnehmung erwachte, daß es während der letzten zwei Meilen ein falsches Boot gezogen habe. Georg glaubte, daß nur der Einfluß des süßen Geschöpfes an seiner Seite den jungen Mann von einer derben Gefühlsäußerung zurückgehalten habe. Das Mädchen erholte sich zuerst wieder von seinem Erstaunen; dann aber rang es die Hände und rief in wildem Schmerze aus: »O, Heinrich, wo ist denn nun die Tante geblieben?« »Haben sie die alte Dame jemals wieder aufgefunden?« fragte Harris. Georg sagte, er habe es nicht erfahren. Ein anderes Beispiel von einem gefährlichen Mangel an Sympathie zwischen Zieher und Gezogenem erfuhren Georg und ich selbst einmal auf der Fahrt nach Walton. Es war an der Stelle, wo sich der Pfad ganz sachte gegen das Wasser senkt; wir hatten uns am jenseitigen Ufer gelagert und ließen die Blicke unbestimmt in die Weite schweifen. Mit eins kam ein kleines Boot in Sicht, das mit ungeheurer Geschwindigkeit von einem kräftigen Leinpferd, auf dem ein kleiner Junge hockte, gezogen wurde. Im Boote selbst lagen fünf Burschen, anscheinend süßen Träumen hingegeben, und der Mann am Ruder hatte ein besonders schläfriges Aussehen. »Wenn doch der jetzt am falschen Ende des Steuerseils zöge,« murmelte Georg, als sie an uns vorüberfuhren. In demselben Augenblicke geschah das in der Tat: das Boot rannte am Ufer an mit einem Gekreisch, als ob man vierzigtausend Laken zerrissen hätte. Zwei Männer, ein Korb und drei Ruder verließen in demselben Moment das Boot auf der Backbordseite und blieben am Ufer hängen, und einige Augenblicke nachher landeten zwei andere von den Gesellen und verschwanden unter Boothaken, Segeln, Reisesäcken und Flaschen. Der fünfte Mann kam zwanzig Schritte weiter oben kopfüber aus dem Boot heraus. Das schien nun das Boot wesentlich zu erleichtern, daher schoß es jetzt viel rascher davon, und der Junge auf dem Leinrosse schrie aus vollem Halse und trieb sein Pferd zum Galopp an. Die Burschen richteten sich auf und starrten einander an. Erst nach geraumer Weile begriffen sie, was passiert war, und dann fingen sie an, dem Jungen Halt! zuzurufen. Dieser aber war viel zu sehr mit seinem Gaul beschäftigt, um auf sie zu hören. Wir schauten ihnen nach, bis wir sie aus dem Gesicht verloren hatten. Ich könnte nicht sagen, daß ich Mitleid mit ihrem Unglück gehabt hätte. Im Gegenteil, ich wünschte, all die jungen Lümmel, die sich in solcher Weise ziehen lassen – und viele tun das – möchten ebensolches Mißgeschick erfahren. Außer der Gefahr, der sie selbst ausgesetzt sind, werden sie auch eine Gefahr und ein Hindernis für jedes andere Boot, das in ihren Weg kommt. Bei dem raschen Lauf ihres Bootes ist es unmöglich für sie, andern Booten auszuweichen, oder den andern, ihnen aus dem Wege zu gehen. Ihre Leine wickelt sich plötzlich um euren Mast, wirft euer Boot um, oder erfaßt einen seiner Insassen und wirft ihn ins Wasser, oder reißt ihm die Haut des Gesichts auf. Der beste Plan ist in einem solchen Fall der, euren Kurs festzuhalten, und sie mit einer Stoßzange von euch abzutreiben. Am aufregendsten ist es jedenfalls, sich von Mädchen ziehen zu lassen. Das ist ein Vergnügen, das sich niemand entgehen lassen sollte. Es sind immer drei Fräulein dazu erforderlich. Zwei von ihnen ziehen an der Leine, und das dritte rennt vor und hinter ihnen her und treibt Possen. Regelmäßig fängt die Geschichte damit an, daß sie sich in die Leine verwickeln. Zuerst wickelt sie sich um ihre Füße; da müssen sie sich auf den Weg niedersetzen, um einander davon zu befreien; aber jetzt schlingt sie sich um ihre Hälse, so daß sie nahezu erwürgt werden. Endlich kommen sie damit wieder in Ordnung, dann setzen sie sich in Marsch und rennen, daß das Boot eine ganz unheimliche Geschwindigkeit erlangt. Nach einer Weile müssen sie natürlich atemlos anhalten; dann setzen sie sich wieder alle ins Gras und lachen, während euer Boot in die Mitte des Stroms hinausgeht und sich im Kreise dreht, ehe ihr nur wißt, was geschah, oder ein Ruder ergreifen könnt. Dann stehen sie auf und machen große Augen. »Seht nur,« rufen sie, »da ist es schon mitten in der Strömung draußen!« Dann ziehen sie wieder eine Weile ganz ordentlich, bis es plötzlich einer von ihnen einfällt, daß sie ihr Kleid aufstecken sollte. So halten sie zu diesem Zweck wiederum an, und dabei bleibt das Boot auf einer Sandbank sitzen. Jetzt fahrt ihr in die Höhe, stoßt es weg und ruft den Damen zu, sie sollen nicht anhalten. »Ja!« rufen sie zurück. »Was gibt's denn?« »Ihr sollt nicht halten!« – brüllt ihr jetzt, so laut ihr könnt. »Was sollen wir nicht?« »Nicht anhalten! Fortziehen, vorwärts, vorwärts!« »Geh' einmal zurück, Emilie, und frage, was sie eigentlich wollen,« sagt eine von ihnen; und Emilie kommt zu uns zurück und fragt, was es gebe. »Was wollt ihr?« fragt sie. »Ist etwas passiert?« »Nein!« gebt ihr zur Antwort, »'s ist alles in Ordnung! Nur vorwärts – nicht anhalten!« »Warum denn nicht?« »Nun, weil wir nicht steuern können, wenn ihr haltet. Ihr müßt das Boot im Zug halten!« »In was halten?« »Ja, im Zug halten müßt ihr das Boot!« »O, jetzt versteh' ich; ich werde es den andern sagen. Machen wir's sonst recht?« »O ja! Ganz nett macht ihr's, nur sollt ihr nicht anhalten!« »O, die Arbeit scheint gar nicht so schwierig zu sein. Vorher dachte ich, es sei so schwer zu lernen.« »Ach nein, es ist ganz einfach. Ihr braucht nur gleichmäßig fortzuziehn, das ist alles!« Um wieder auf Georg zurückzukommen – nach einer guten Weile bekam auch er seine Leine wieder klar, und dann zog er uns ganz normal bis Penton-Hook. Da besprachen wir nun die wichtige Frage wegen des Nachtlagers. Wir hatten beschlossen, die Nacht an Bord zu schlafen; in diesem Fall mußten wir entweder bleiben, wo wir waren, oder noch bis Staines weiterfahren. Es schien uns noch zu früh, jetzt schon unter Dach zu gehen, da die Sonne noch am Himmel stand, so beschlossen wir denn, gerade noch bis Runnymead, drei und eine halbe Meile weiter stromaufwärts, zu schiffen, wo ein ruhiges, bewaldetes Plätzchen am Ufer einen guten Schutz für die Nacht versprach. Nachmals wünschten wir indessen alle drei, daß wir lieber in Penton-Hook übernachtet hätten. Drei oder vier Meilen stromaufwärts zu rudern, ist am frühen Morgen eine Kleinigkeit, aber am Ende eines langen Tages eine schwere Arbeit. Während dieser letzten Meilen interessiert euch die schönste Landschaft nicht mehr, ihr mögt nicht mehr schwatzen und nicht mehr lachen. Jede halbe Meile erscheint euch so lang wie zwei ganze. Ihr könnt kaum begreifen, daß ihr erst da seid, und glaubt steif und fest, daß die Karte unrichtig sei; und wenn ihr euch mit Ach und Krach eine Strecke weiter gerudert habt, die euch zum wenigsten zehn Meilen weit dünkt, und die Schleuse dann noch immer nicht in Sicht ist, so fürchtet ihr im Ernst, irgend jemand müsse sie gestohlen oder fortgeschleppt haben. Ich erinnere mich, bei einer Fahrt den Fluß hinauf einmal schmählich aufgesessen zu sein – ich meine natürlich im figürlichen Sinne. Ich hatte eine junge Dame bei mir, eine Cousine mütterlicherseits. Wir waren auf dem Rückweg hinab nach Goring. Es war schon etwas spät, und es lag uns daher daran, zu rechter Zeit nach Hause zu kommen, d. h. meiner Base lag daran. Schon drohte die Dämmerung hereinzubrechen; da fing das Fräulein an, in Aufregung zu geraten. Sie meinte, zum Abendessen müsse sie zu Hause sein. Ich erwiderte ihr, auch ich verspürte so ein gewisses unbestimmtes Sehnen nach einem Abendbrote. Ich zog die mitgenommene Karte heraus und sah nach, wie weit wir jetzt noch hätten. Ich überzeugte mich, daß es gerade noch anderthalb Meilen bis zur nächsten Schleuse, bei Wallingford, seien, und von da noch fünf Meilen bis Cleeve. »O, nur keine Angst!« sagte ich; »wir kommen noch vor sieben Uhr durch die nächste Schleuse, und dann gibt es nur noch eine weitere zu passieren.« So legte ich mich denn wieder ins Zeug und ruderte in gleichmäßigem Tempo weiter. Wir fuhren unter der Brücke durch, und bald darauf fragte ich sie, ob sie die bewußte Schleuse sehe. Sie erwiderte mir aber: nein, sie sehe keine Schleuse; ich bemerkte hierauf: »O!« und ruderte weiter. Nach Verlauf von weiteren fünf Minuten bat ich sie, nun wieder auszuschauen. »Nein,« sagte sie, »ich sehe keine Spur von einer Schleuse.« »Aber bist du – bist du wirklich sicher, daß du weißt, was eine Schleuse ist, wenn du eine siehst?« fragte ich sie etwas zögernd, da ich sie nicht beleidigen wollte. Aber es beleidigte sie doch, und sie meinte ärgerlich, ich sollte selbst ausschauen; so zog ich denn die Ruder ein und schaute aus. In gerader Richtung lag der Fluß vor uns da, ungefähr eine Meile weit sichtbar – aber weit und breit keine Spur von einer Schleuse. »Du meinst doch nicht, daß wir den Weg verloren haben, wie?« fragte meine Gefährtin. Wie dies hätte zugehen sollen, konnte ich zwar nicht einsehen; doch gab ich der Vermutung Ausdruck, wir seien vielleicht auf irgendeine Weise in den Wehrabfluß geraten und steuerten jetzt auf die Wasserfälle zu. Diesen guten Gedanken fand meine Base nicht im mindesten tröstlich; im Gegenteil, sie fing an zu weinen, und sagte, wir würden beide ertrinken, und dies wäre ein über sie verhängtes Strafgericht, weil sie mit mir ausgefahren sei. Das erschien mir nun doch eine ungebührlich harte Strafe zu sein; aber meiner Base kam es nicht so vor; sie äußerte die Hoffnung, es werde bald alles vorüber sein. Ich versuchte ihr wieder etwas Lebensmut und Hoffnung einzuflößen und die Angelegenheit auf die leichte Achsel zu nehmen. Ich erklärte ihr, die ganze Geschichte rühre davon her, daß ich eben nicht so geschwind gerudert hätte, als ich geglaubt; aber wir würden nun bald die Schleuse erreichen. Dann ruderte ich noch eine Meile vorwärts. Jetzt fing ich selbst an, unruhig zu werden. Ich schaute wieder auf die Karte. Da stand die Wallingfordschleuse ganz deutlich bezeichnet – anderthalb Meilen unter der Pensonsschleuse. Es war eine gute, verläßliche Karte, und überdies erinnerte ich mich der Schleuse noch ganz gut von früher her. Ich hatte sie schon zweimal passiert. Aber wo waren wir denn um des Himmels willen? Was war uns zugestoßen? Es kam mir zuletzt alles wie ein Traum vor; mir war's, als müsse ich schlafend im Bette liegen, um in der nächsten Minute mit dem Rufe, es sei zehn Uhr, aufgeweckt zu werden. Ich fragte meine Base, ob sie es für möglich hielte, daß dies alles nur ein Traum sei; sie meinte, sie habe diese Frage eben an mich richten wollen; dann fragten wir uns, ob wir beide wohl schliefen, und wenn dies der Fall wäre, wer von uns wirklich diesen Traum träume, und wer nur eine Traumgestalt für den andern sei. Es war dies eine ganz interessante Untersuchung. Währenddessen ruderte ich immerzu, aber trotzdem kam noch immer keine Schleuse in Sicht. Der Fluß, von den dunkler werdenden Schatten der Nacht bedeckt, wurde immer düsterer und unheimlicher, überall schien es gespenstisch zu spuken. Ich dachte an Kobolde und Hexen, an Irrlichter und an jene bösen Mädels, die nächtlicherweile auf den Felsen sitzen und die Leute in die Wirbel der Fluten und in solches Zeug hineinlocken; und ich wünschte jetzt ein besserer Mensch gewesen zu sein und mehr fromme Lieder gelernt zu haben. In solche Betrachtungen versunken, hörte ich auf einmal – wer beschreibt mein Entzücken – auf einer schlecht gespielten Ziehharmonika die Weise »Ach, ich hab' sie ja nur usw.« ertönen, und jetzt wußte ich, daß wir gerettet waren. In der Regel schwärme ich nicht für die Töne der Ziehharmonika; aber wie herrlich erklangen sie uns beiden in diesem Augenblick! Weit, weit lieblicher als die Stimme des Orpheus oder Apollos Leier oder irgend etwas derartiges uns hätte erklingen können. Himmlische Musik hätte uns beide in unserem damaligen Gemütszustande nur noch tiefer beunruhigen können. Eine ergreifende, schön wiedergegebene Melodie würden wir ohne Zweifel für eine Geisterwarnung gehalten und alle Hoffnungen aufgegeben haben. Aber die Klänge des »Ach, ich hab' sie ja nur usw.«, das krampfhaft aus den Saiten gezerrt und mit unfreiwilligen Variationen vorgetragen wurde, waren unzweifelhaft von Menschenhänden hervorgebracht – ein unsagbar beruhigender Gedanke! Die süßen Töne kamen näher, und bald lag das Boot, dem sie entströmten, an unserer Seite. Es enthielt eine Partie männlicher und weiblicher Insassen vom Lande, die eine Fahrt im Mondschein machen wollten. (Daß kein Mond scheinen wollte, war ja nicht ihre Schuld!) Ich habe in meinem ganzen Leben keine reizenderen, liebenswürdigeren Leute gesehen. Ich rief sie an und fragte, ob sie mir den Weg nach der Wallingfordschleuse weisen könnten, und teilte ihnen mit, daß ich schon seit zwei Stunden auf dem Lugaus nach dieser Schleuse sei. »Wallingfordschleuse?« riefen sie aus. »Na, Gott soll Ihnen helfen, Herr! Diese Schleuse ist schon seit über einem Jahr abgetragen worden, es gibt jetzt keine Wallingfordschleuse mehr, mein Herr. Sie sind jetzt ganz nahe bei Cleeve!« »Hol' mich der Kuckuck! Da ist ein Herr, Willy, der nach der Wallingfordschleuse auslugt!« Daran hatte ich niemals gedacht. Ich hätte allen um den Hals fallen und sie küssen mögen; aber der Fluß strömte zu stark, um das zu erlauben; so mußte ich mich begnügen, ihnen mit kalt klingenden Worten meine warme Dankbarkeit zu bezeigen. Wieder und wieder dankten wir ihnen und sagten, es sei eine entzückende Nacht, und wir wünschten ihnen eine vergnügte Weiterfahrt; ja, ich glaubte gar, ich habe sie alle auf eine Woche zu mir eingeladen, und meine Base meinte, ihre Mutter würde sich so freuen, sie alle bei sich zu sehen. Dann sangen wir das Soldatenlied aus »Faust« und kamen noch rechtzeitig zum Abendessen nach Hause. * Harris und ich fingen an, zu befürchten, daß die Bell Weirschleuse auf die nämliche Art verschwunden sein dürfte wie die Wallingfordschleuse. Georg hatte uns bis oberhalb Staines hinaufgeschleppt; dort hatten wir das Boot zu schleppen übernommen; es däuchte uns, als ob wir fünfzig Tonnen zu ziehen hätten und vierzig Meilen stampfen müßten. Es war halb acht Uhr, als wir es endlich hinter uns hatten; dann stiegen wir auch ein und ruderten uns dicht an das linke Ufer, indem wir uns nach einer Stelle zum Anhalten umschauten. Wir hatten zuerst nach der Magna Charta-Insel schiffen wollen, einem freundlichen, hübschen Fleck im Flusse, wo sich dieser durch ein sanftes grünes Tal hindurchschlängelt; dort wollten wir zwischen einer der pittoresken Einfahrten, die sich zwischen dem Ufer befinden, kampieren. Aber seltsam, wir hatten nun bei weitem nicht mehr solche Sehnsucht nach dem Pittoresken, wie wir sie früher am Tage empfunden hatten. Ein bißchen Wasser zwischen einer Kohlenbarke und einem Gaswerk würde uns für diese Nacht vollkommen genügt haben. Wir verlangten jetzt nach keiner Szenerie mehr. Wir verlangten nach unserem Abendessen und dann nach der Nachtruhe. Trotzdem ruderten wir vollends hinauf bis zu einem Orte namens »Picnic Point« und hielten an einem recht angenehmen Eckchen unter einem Ulmenbaum, an dessen hervorragenden Wurzeln wir unser Boot befestigten. Dann gedachten wir unser Abendessen zu bereiten (den Fünfuhrtee hatten wir uns, um Zeit zu gewinnen, geschenkt), aber Georg sagte, nein, wir täten besser, erst die Leinwand aufzuspannen, ehe es ganz dunkel werde. Dann, meinte er, sei unsere ganze Arbeit getan, und wir könnten uns mit leichtem Herzen zum Essen niedersetzen. Aber diese Leinwand aufzuwickeln, kostete mehr Arbeit, als einer von uns sich hatte träumen lassen. In abstracto sah sich die Sache so einfach an! Man nimmt fünf eiserne Bogen, riesigen Krocketringen ähnlich, befestigt sie an dem Bord des Boots, zieht die Decke darüber her und knüpft sie unten fest; das erfordert höchstens zehn Minuten, dachten wir. Aber das war eine gewaltige Unterschätzung. Wir stellten die Bogen auf und steckten deren Enden in die dafür angebrachten Augen. Wer dächte, daß dies ein gefährliches Geschäft sei? Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, so wundere ich mich, daß überhaupt noch einer von uns am Leben ist, um die Geschichte zu erzählen. Das waren keine Bogen, das waren Teufel! Zuerst wollten sie nicht in die Augen hineinpassen; wir mußten mit den Füßen darauftrampeln, mit dem Boothaken daraufstoßen und hämmern, und nachdem sie endlich darinsteckten, zeigte es sich, daß sie nicht in den richtigen Augen steckten und wieder herausgezogen werden mußten. Aber sie wollten nicht wieder heraus, und zwei von uns strengten sich fünf Minuten lang vergeblich an; plötzlich aber sprangen sie heraus und versuchten, uns ins Wasser zu werfen und zu ertränken. Sie hatten Scharniere in der Mitte, und wenn wir nicht aufmerkten, so kneipten sie uns an delikaten Teilen des Leibes, und während wir auf der einen Seite des Boots mit den Bogen uns abmühten und sie zu überreden suchten, ihre Pflicht zu tun, kamen sie auf der anderen Seite wieder hinterlistig heraus und schlugen uns an die Köpfe. Nun, zuletzt brachten wir es doch zuwege, und dann war weiter nichts zu tun, als die Decke darüber zu ziehen. Georg rollte sie auseinander und befestigte das eine Ende an dem Schnabel des Boots. Harris stand in der Mitte, um sie von Georg in Empfang zu nehmen und sie mir zuzurollen. Ich war am andern Ende des Boots und harrte der Decke, die da kommen sollte. Es dauerte aber etwas lange, bis sie endlich bei mir ankam. Georg machte sein Teil ganz gut; aber für Harris war das eine neue Arbeit, und er verhunzte sie. Wie er es anfing, weiß ich wirklich nicht; er konnte es auch selbst nicht erklären; aber auf irgendeine mysteriöse Weise gelang es ihm, nach ungefähr zehn Minuten übermenschlicher Anstrengung sich vollständig darin zu verwickeln. Er war so fest darin eingewickelt und in den Falten begraben, daß er sich nicht herauswinden konnte. Er machte natürlich verzweifelte Versuche loszukommen und seine Freiheit zu erlangen – das Recht jedes Engländers von Geburt an – und bei diesem Bestreben hieb er auf Georg ein; dann fluchte Georg auf Harris, begann ebenfalls zu ringen und wurde geradeso eingewickelt und eingerollt. Von alledem wußte ich aber die ganze Zeit nichts; ich verstand auch nichts von dem ganzen Geschäft. Man hatte mich stehen heißen, wo ich stand, und warten, bis die Leinwand zu mir herüberkäme, und so standen Montmorency und ich da und warteten, beide so geduldig wie die Lämmer. Wir bemerkten wohl, daß die Leinwand sich zeitweise hob und heftig umhergeworfen wurde, aber wir dachten, das gehöre zum Geschäft, und mischten uns weiter nicht ein. Wir hörten auch mancherlei höfliche und schmeichelhafte Zwiegespräche, aber wir wollten doch noch warten, bis sich die Sache etwas mehr abgeklärt haben würde, ehe wir uns damit befaßten. So warteten wir eine ganze Weile, aber die Geschichte schien nur immer verwickelter zu werden, bis zuletzt Georgs Kopf an der Seite des Boots hervorkam und den Mund öffnete. »So hilf uns doch ein bißchen!« rief er, »kannst du denn das nicht, du Kuckucksmensch! Steht der Kerl da wie eine ausgestopfte Mumie, und sieht doch, daß wir beide am Ersticken sind! O, du Schafskopf du!« Ein Ruf nach Hilfe schlägt bei mir niemals an ein taubes Ohr; so ging ich denn und half ihnen sich herauswickeln. Es war auch die höchste Zeit, denn Harris war bereits ganz schwarz im Gesicht. Es brauchte noch eine halbe Stunde harter Arbeit, bevor wir mit der Geschichte ordentlich zustande kamen; dann machten wir das Deck klar und schickten uns an, das Abendessen zu bereiten. Am Schnabel des Boots hingen wir unsern Teekessel auf, dann gingen wir nach dem andern Ende, als ob uns der Kessel nichts anginge, und holten die zur Abendkost nötigen Sachen hervor. Das ist das einzige Mittel, um bei einer Bootfahrt einen Teekessel zum Sieden zu bringen. Wenn der Kessel merkt, daß ihr auf ihn wartet und ungeduldig werdet, dann wird er gewiß nicht singen! Ihr müßt vielmehr ganz auf die Seite gehen, und tun, als ob ihr überhaupt gar keinen Tee verlangtet. Nicht einmal nach ihm umsehen müßt ihr euch; dann wird das Wasser sofort zu dampfen beginnen, und sich wie närrisch in Tee verwandeln. Auch ist es ein guter Plan, wenn es auch sehr pressiert mit dem Tee, euch recht laut miteinander darüber zu unterhalten, daß ihr eigentlich keinen Tee nötig habt und keinen haben wollt. Dann begebt ihr euch in die Nähe des Kessels und sprecht so laut, daß er euch hören kann: »Ich will keinen Tee! Willst du vielleicht Tee, Georg?«, worauf Georg dann zurückruft: »O nein! Ich mag keinen Tee; wir wollen statt dessen Limonade nehmen. Tee ist so schwer verdaulich!« Dann kocht der Kessel auf einmal über und löscht das Feuer aus. Wir hatten diesen harmlosen Betrug auch diesmal mit bestem Erfolg in Szene gesetzt. Als wir mit den übrigen Zurüstungen zu Ende waren, war auch der Tee fertig. Dann zündeten wir die Lampe an und setzten uns zum Abendessen nieder. Wir waren dessen sehr bedürftig. Während fünfunddreißig Minuten war durch die ganze Länge und Breite des Boots auch nicht ein anderer Laut zu hören als der Klang von Messer und Gabeln und das Mahlen unserer vier Gebisse. Am Ende besagter fünfunddreißig Minuten stieß Harris den Ruf »Ah« aus, zog sein linkes Bein unter sich vor und placierte das rechte an dessen Stelle. Fünf Minuten später stieß Georg ebenfalls sein »Ah« aus und warf seinen Teller ans Ufer hinaus; und nach Verlauf von drei weiteren Minuten gab Montmorency das erste Zeichen von Befriedigung, das er seit unserer Abfahrt geäußert, von sich, legte sich auf die Seite und streckte die Beine aus. Und dann kam auch mein »Ah«, während ich meinen Kopf zurückbog; dabei stieß ich ihn aber an einen der Reifen des Boots – ich machte mir indessen nichts daraus. Ich fluchte nicht einmal. Wie gut ist doch der Mensch, wenn er satt ist. Wie zufrieden sind wir dann mit uns selbst und mit der Welt. Leute von Erfahrung haben mir versichert, daß ein reines Gewissen den Menschen froh und glücklich mache. Aber ein voller Magen tut das auch, und das ist billiger und leichter zu beschaffen. Ja, man ist geneigt zu vergeben und zu vergessen, man ist so voll edler und großmütiger Gefühle – nach einer reichlichen und wohlverdauten Mahlzeit. Es ist etwas recht Sonderbares um diese Herrschaft des Magens über unsern Verstand. Wir können weder arbeiten noch denken, bis er es uns erlaubt. Er diktiert unsere Bewegungen und beherrscht unsere Leidenschaften. Nach Eiern und Speck sagt er uns: »Jetzt arbeite!« Nach einem Beefsteak und Porter ladet er uns zum Schlafen ein. Nach einer Tasse Tee (NB. zwei Löffel Tee auf eine Tasse, aber nur drei Minuten ziehen lassen) sagt er zum Verstand: »Jetzt erhebe dich und zeige, was du kannst! Nun sei beredt, voll tiefer Gedanken und zärtlich! Schau mit klarem Auge in die Natur und das Leben! Breite die Flügel deiner schnellen Gedanken aus und schwebe auf wie ein göttlicher Geist, auf über die unter dir rollende Welt, schweife dahin zwischen dem Heer der flammenden Sterne bis an die Tore der Ewigkeit!« Nach heißem Pfannkuchen spricht der Magen: »Sei dumm und unvernünftig wie das Vieh auf dem Felde – ein Tier ohne Sinn und Verstand, unerleuchtet von irgendeinem Strahl der Phantasie, der Hoffnung, der Furcht, der Liebe oder des Lebens!« Und nach Brandy – nach einem genügenden Maß Brandy – sagt er: »Jetzt komm, Narr, grinse und stolpere, daß deine Mitmenschen über dich lachen! Geifere wie ein Toller, stoße sinnlose Worte hervor und zeige der Welt, was für ein nutzloses Geschöpf doch der Mensch ist, dessen Witz und Wille ersäuft sind – wie zwei junge Katzen – in einem halben Zoll Alkohol!« Wir sind wahr und wahrhaftig die traurigsten Sklaven unseres Magens. O, meine Freunde, strebt doch nicht nach Moralität und Rechtschaffenheit. Wacht vielmehr so sorgsam als möglich über euren Magen und regelt eure Diät mit Verstand und Sorgfalt. Dann wird Tugend und Zufriedenheit in euren Herzen herrschen, ohne daß ihr euch besonders anstrengen müßt. Dann werden aus euch gute Bürger, liebende Gatten, zärtliche Väter – edle, brave Menschen! Vor unserem Abendessen waren Harris, Georg und ich drei streitsüchtige, bissige, schlecht aufgelegte Kerle gewesen. Dagegen nachher – wie schauten wir einander so freundlich an! Ja, auch der Hund bekam jetzt einen freundlichen Blick. Wir liebten einander, wir liebten die ganze Welt. – Als Harris aufstand, trat er Georg auf die Hühneraugen. Wäre das vor dem Abendessen passiert, würde Georg wohl Wünsche betreffs Harris' Schicksal in dieser und jener Welt ausgedrückt haben, Wünsche, die einem ängstlichen Mann ein Schaudern erweckt hätten. Jetzt aber sagte er nur: »Langsam, altes Haus! Gib acht auf meine Hühneraugen.« Und Harris, der ihm vor dem Abendessen gewiß in seiner maliziösesten Weise gesagt haben würde, wie ein Mensch denn überhaupt vermeiden könne, jemand innerhalb zehn Meter auf den Fuß zu treten, wenn dieser jemand Georg heiße und Füße von solcher Länge in ein Boot von gewöhnlicher Größe mitbringe, und daß er ihm überhaupt raten würde, sie über Bord zu hängen – so sagte Harris jetzt ganz freundlich: »O, es ist mir leid, alter Herr; ich habe dir hoffentlich nicht weh getan!« Und Georg versetzte: »O nein, gar nicht,« und fügte hinzu, es sei seine eigene Schuld gewesen. Und Harris sagte, nein, seine sei es gewesen. O, es war erquickend, ihnen zuzuhören. Hierauf zündeten wir unsere Pfeifen an, schauten in die stille Nacht hinaus und schwatzten. Georg sagte: »Warum können wir nicht immer so sein? Warum können wir nicht fern von der Welt und ihren Versuchungen ein nüchternes, ehrbares Leben führen und Gutes tun?« Da erwiderte ich: »Gerade das habe auch ich schon oft gewünscht;« und dann berieten wir, ob wir vier Geschöpfe uns nicht nach einem hübschen, wohl eingerichteten, weltabgekehrten Eiland einschiffen können, um dort im Walde zu leben. Harris meinte, soviel er gehört habe, sei die Gefahr bei solchen weltabgekehrten Inseln die, daß sie so feucht seien; Georg aber sagte: »Durchaus nicht, wenn sie ordentlich drainiert werden.« Und als wir auf die Drainage kamen, da fiel Georg eine lustige Geschichte ein, die einst seinem Vater passiert war. Er erzählte, sein Vater sei einst mit einem guten Bekannten durch Wales gereist; da hätten sie eines Abends in einem kleinen Wirtshause am Wege angehalten, in welchem sie noch andere Bekannte angetroffen, mit denen sie den Abend zubrachten. Sie hatten einen sehr lustigen Abend und blieben lange sitzen und als sie endlich zu Bett gingen, waren sie ein ganz klein wenig angeheitert. (Georgs Vater war damals noch ein sehr junger Mann.) Er und sein Freund sollten in einem Zimmer schlafen, aber jeder hatte sein eigenes Bett. Sie nahmen das Licht und stiegen hinauf. Das Licht stieß an die Wand und verlöschte; da mußten sie sich im Finstern auskleiden und ins Bett kriechen. Das brachten sie denn auch endlich fertig; aber anstatt daß jeder in sein eigenes Bett stieg, wie sie glaubten, stiegen sie beide in das nämliche, ohne es zu bemerken, der eine den Kopf oben, der andere unten im Bett und die Füße auf dem Kissen. Eine Zeit lang war alles ruhig; dann aber fing Georgs Vater an: »Joseph!« »Was gibt's, Tom?« fragte der andere vom Fußende des Bettes her. »Ei! es ist einer im Bett,« sagte Georgs Vater, »da streckt mir der Kerl seine Füße ohne viel Umstände einfach auf mein Kissen!« »Wie sonderbar das doch ist, Tom, aber ich will verdammt sein,« sagte nun der andere, »wenn bei mir nicht auch einer im Bett liegt!« »Ja, was willst du mit ihm anfangen?« »Nun – ich werde ihn hinausschmeißen!« sagte Joseph. »Das tue ich auch!« meinte tapfer Georgs Vater. Dann entspann sich ein kurzer Kampf, gefolgt von einem zweimaligen schweren Fall auf den Boden; dann sagte eine Stimme in etwas schmerzlichem Tone: »He, Tom, hörst du nicht?« »Wohl!« sagte Tom. »Bist du mit deinem fertig geworden?« »Nun – die Wahrheit zu sagen, der Kerl hat mich hinausgeworfen!« »Ja! So ist's mir auch gegangen. Ich sage dir, auf dieses Wirtshaus halte ich nicht viel.« Hier unterbrach Harris den Erzähler: »Wie hieß dieses Wirtshaus?« »Das ›Schwein und die Pfeife‹« sagte darauf Georg. »Aber warum?« »Ja – doch nein! Dann ist es doch nicht das nämliche!« sagte Harris. »Was willst du damit sagen, Harris?« fragte Georg. »Je nun, es ist so merkwürdig. Ganz die gleiche Geschichte passierte auch meinem Vater in einem Wirtshause auf dem Lande, wie er uns oft erzählte. Ich dachte, es möchte in demselben Wirtshaus« gewesen sein!« * Um zehn Uhr nachts zogen wir uns zum Schlafen zurück; ich hoffte, gut zu schlafen, denn ich war ordentlich müde; aber es war nichts damit. Sonst pflege ich mich auszukleiden und den Kopf aufs Kissen zu legen; dann klopft jemand an die Türe und sagt: »Stehen Sie auf, es ist halb neun Uhr!« Aber heute nacht schien sich alles gegen mich verschworen zu haben. Die Neuheit der ganzen Begebenheit, das harte Lager im Boote, die zusammengekrümmte Lage (ich lag mit den Füßen unter der einen Sitzbank, während mein Kopf auf der andern ruhte); das Geräusch des rings an das Boot klatschenden Wassers, der Wind, der in dem Gebüsch des Ufers rauschte – alles störte meine Ruhe und hielt mich vom Schlafe ab. Ich konnte endlich ein paar Stunden schlafen; dann schien es mir, als ob das Boot in der Nacht einen Auswuchs bekommen hätte – denn derselbe war sicher am Abend zuvor nicht dagewesen, und am Morgen war er auch wieder verschwunden – einen Auswuchs, der sich mir beständig in den Rücken eingrub. Ich schlief trotzdem fort und träumte, ich hätte einen Sovereign verschluckt, und man habe mir mit einem Bohrer ein Loch in den Rücken gebohrt, um ihn wieder herauszukriegen. Es schien mir das ziemlich unhold von den Leuten; ich sagte ihnen, ich wolle ihnen den Betrag schuldig bleiben, sie sollten ihn am Ende des Monats bekommen. Aber sie wollten nicht darauf hören und meinten, es sei viel besser, sie hätten ihn sofort, weil sonst die Zinsen zu hoch anwachsen würden. Nach einer Weile aber wurde mir das Ding zu arg, und ich sagte ihnen meine Meinung ganz unverhohlen; da stießen sie mir den Bohrer so heftig in den Leib, daß ich erwachte. Das Boot schien so dumpf, und mein Kopf schmerzte. So dachte ich, ich würde besser tun, hinaus in die frische Nachtluft zu gehen. Ich warf an Kleidungsstücken um, was ich gerade finden konnte, etwas von meinen eigenen, das übrige von Harris und Georg – dann kroch ich unter der Leinwand hervor ans Ufer. Es war eine wundervolle Nacht. Der Mond war schon hinab unter den Horizont und hatte die stille Erde mit den Sternen allein gelassen. Es war, als ob sie während der tiefen Stille mit der Mutter Erde eine leise Zwiesprach hielten, mit ihrer Schwester, deren Kinder schliefen; Zwiesprach über die tiefen Geheimnisse – in Worten zu hoch und zu tief, als daß die kindischen Ohren der Menschen ihren Sinn hätten fassen können. Sie erfüllen uns mit Ehrfurcht, diese seltsamen Geschöpfe, diese kalten, klaren Sterne! Wir sind wie Kinder, deren kleine Füße sich in einen schwach erleuchteten Tempel verirrt haben, wo man sie gelehrt hat, jenen unbekannten Gott zu verehren; und da stehen sie nun in dem Dom, dessen ungeheurer Bogen das Halbdunkel umspannt, und schauen auf zu den Lichtern, teils in Hoffnung, teils in Grauen, eine wunderbare Vision wahrzunehmen. Und doch scheint die Nacht so voll Trost und Stärkung zu sein. In ihrer ruhigen Pracht schleichen unsere Sorgen still und beschämt von dannen. Der Tag war so voll Streit und Sorge, unsre Herzen waren mit so bittern und schlimmen Gedanken beschwert, und die Welt erschien uns so hart und schlecht. Da kommt die Nacht und legt wie eine liebende Mutter ihre Hand auf unser fieberndes Haupt, richtet unser tränenfeuchtes Antlitz empor gegen das ihre und lächelt uns an; und obwohl sie nicht zu uns spricht, wissen wir doch, was sie uns sagen möchte; wir drücken unsre glühenden Wangen an ihren Busen, und dann schwindet aller Schmerz. Ja! Oftmals ist unsere Pein wirklich tief, nicht bloß in der Einbildung; da stehen wir dann wohl stumm, weil wir keine Worte mehr dafür haben, sondern nur schmerzliche Seufzer. Aber die Nacht hat ein Herz voll Mitleids gegen ihre Kinder; sie kann uns unser Weh nicht wegnehmen, aber sie nimmt unsre zuckende Hand in die ihre. Dann schwindet die kleine Welt um uns her in weite Ferne und wird immer kleiner; in ihren Armen eingelullt übergibt sie uns für einen Augenblick einer höhern Gewalt als die ihrige ist, und in dem wunderbaren Licht dieser Himmelsgewalt liegt das ganze Menschenleben wie ein offenes Buch vor uns; wir wissen dann, daß Pein und Sorge nur Engel sind, von Gott gesandt. Nur diejenigen, die die Dornenkrone des Leidens getragen haben, können dieses wunderbare Licht schauen; sie sprechen nicht von dem, was sie erschaut haben, und erzählen nichts von den Geheimnissen, die ihnen geoffenbart wurden. Vor langen Jahren ritten einmal ein paar tapfere Degen durch ein fremdes Land; ihr Weg führte sie durch einen tiefen Wald, wo das Dornengestrüpp so dicht wurde, daß es ihnen das Fleisch vom Leibe riß, und sie den Weg verloren. Und das Laub der Bäume in diesem Wald war dunkel und dicht, so daß kein Lichtstrahl hindurchdringen konnte, um das traurige Düster zu erhellen. Während ihres Marsches durch diesen Wald verloren sie einen ihrer Kameraden, der sich von ihnen entfernt hatte; er irrte in weiter Ferne und sie sahen ihn nicht wieder; sie trauerten sehr um ihn, während sie ihren Ritt fortsetzten und hielten ihn für tot. Und als sie nun das schöne Schloß, dem sie zustrebten, erreicht hatten, blieben sie da viele Tage lang und waren fröhlich und guter Dinge; eines Abends nun, als sie in der großen Halle in heiterem, gemütlichem Geplauder beim Feuer saßen und ein fröhliches Gelage hielten, trat auf einmal ihr verlorener Kamerad herein und grüßte sie. Sein Gewand war zerrissen wie eines Bettlers Gewand, und viele tiefe Wunden zeigte sein edler Leib; aber von seinem Antlitz erglänzte ein heller Strahl von Freude und Frieden. Sie fragten ihn und wollten wissen, wie es ihm ergangen seit seiner Trennung von ihnen; da erzählte er denn, wie er sich in dem großen, dunkeln Walde verirrt habe, wie er viele Tage und Nächte gewandert sei, bis er, zerrissen und blutend, sich niedergelegt habe, um zu sterben. Dann, als er dem Tode schon ziemlich nahe gewesen: Siehe! Da kam durch das düstere Dunkel plötzlich ein herrliches Frauenbild daher, das nahm ihn an der Hand und führte ihn durch verschlungene Pfade, die niemand zuvor gekannt, bis auf einmal ein wunderbares Licht in das Dunkel des Waldes hineindämmerte – ein Licht, vor dem das Licht der Sonne erblaßte – und der müde Wanderer in diesem himmlischen Lichte eine Erscheinung erblickte, so hehr und schön, daß er darüber seiner blutenden Wunden nicht mehr gedachte, sondern nur in staunender Bewunderung und Verzückung dastand und eine Freude fühlte, so tief wie das Meer, dessen Tiefe niemand ergründen kann! Doch die Erscheinung schwand, und der Ritter kniete auf die Erde und dankte der guten heiligen Jungfrau, die seine Schritte durch den dunkeln Wald geleitet hatte, und ihn die Erscheinung hatte sehen lassen. Und der Name des dunkeln Waldes heißt Sorge – aber von der Erscheinung, die der gute Ritter sah, wollte er nichts weiter erzählen. * Den andern Morgen erwachte ich um sechs Uhr und fand auch Georg schon erwacht. Wir legten uns auf die andere Seite und suchten noch einmal einzuschlafen; aber es ging nicht. Wäre irgendein besonderer Grund gewesen, weshalb wir nicht wieder hätten einschlafen, sondern aufstehen und uns anziehen sollen, so wären wir mit einem Blick auf unsere Uhren gewiß wieder in Schlaf versunken und hätten bis zehn Uhr fortgeschlafen. Aber da wir auf der weiten Gotteswelt gar keine Veranlassung hatten, zum mindesten zwei Stunden zu früh aufzustehen, und dies denn auch wirklich die größte Absurdität gewesen wäre, so war es ja auch nur der verwünschten Widerspenstigkeit aller menschlichen Dinge zuzuschreiben, daß wir beide das Gefühl hatten, es würde unser Tod sein, wenn wir noch fünf Minuten länger liegen blieben. Georg erzählte, daß ihm die nämliche Geschichte, nur noch schlimmer, vor achtzehn Monaten schon einmal passiert sei, als er bei einer gewissen Frau Gippings wohnte. Seine Uhr sei einmal nicht in Ordnung gewesen und um Viertel auf neun stehen geblieben. Er habe dies aber damals nicht bemerkt, da er abends vergessen hatte, sie aufzuziehen (bei ihm ein ganz ungewöhnliches Vorkommnis). Er habe sie über seinem Bett aufgehängt, ohne nochmals darauf zu sehen. Es war im Winter, ganz nahe dem kürzesten Tag, als sich dies ereignete, und überdies war die ganze Woche über starker Nebel gewesen, so daß die Dunkelheit ihm kein Anhaltspunkt für die Zeit sein konnte, als er am andern Morgen erwachte. Er fuhr in die Höhe und holte seine Uhr herab. Sie zeigte viertel auf neun Uhr. »O, jetzt umringt mich, all ihr guten Geister!« rief er aus, »ich muß ja bis um 9 Uhr in der City sein! Warum hat man mich denn nicht geweckt? O, es ist eine Schande!« Er warf die Uhr zu Boden, sprang aus dem Bett, nahm ein kaltes Bad, wusch sich, kleidete sich an, rasierte sich mit kaltem Wasser, weil keine Zeit mehr war, auf heißes Wasser zu warten, und warf dann noch einen schnellen Blick auf die Uhr. Ob nun die Erschütterung, welche die Uhr durch das Hinwerfen empfangen, sie in Gang versetzt, oder wie es sonst gekommen, konnte Georg nicht sagen; aber das war sicher, daß sie von viertel auf neun Uhr an wieder gegangen war und jetzt zwanzig Minuten vor neun Uhr zeigte. Er steckte sie nun eilends ein und stürmte die Treppe hinab. Im Wohnzimmer war noch alles dunkel und still; da war kein Feuer, kein Frühstück parat. Georg dachte bei sich selbst, das sei doch eine Erzschande für Frau Gippings, und war fest entschlossen, ihr verschiedenes zu sagen, wenn er abends zurückkäme. Dann zog er hastig einen Überrock an, stülpte den Hut auf den Kopf, griff nach dem Schirm und rannte hinab zu der Haustür. Sie war noch nicht einmal aufgeschlossen. Georg verwünschte diese faule alte Frau Gippings ins Pfefferland und dachte, es sei doch sehr seltsam, daß die Leute nicht auch so anständig sein und zu rechter Zeit aufstehen könnten, – so schloß er denn selbst auf und eilte fort. Eine Strecke weit rannte er in scharfem Trab, dann kam es ihm doch sehr sonderbar vor, daß so wenig Leute auf der Straße und noch keine Läden offen waren. Es war heute gewiß ein sehr finsterer und nebliger Tag; aber es war doch ungewöhnlich, daß deshalb alle Geschäfte stillstehen sollten! Er mußte doch auch ins Geschäft! Warum sollten denn andere Leute im Bett bleiben dürfen, nur weil es finster und neblig war? Endlich erreichte er Holborn, auch nicht ein einziger Laden war offen, kein einziger Omnibus zu erblicken. Nur drei Männer, wovon der eine ein Polizeidiener war, dann ein Marktkarren voll Gemüse und eine baufällige Kutsche waren zu sehen. Georg zog wieder seine Uhr heraus; es war noch fünf Minuten bis neun Uhr. Er stand still und fühlte sich den Puls. Dann beugte er sich nieder und befühlte sich die Beine. Dann ging er, noch immer die Uhr in der Hand, auf den Polizeidiener zu und fragte ihn, ob er vielleicht wisse, wie spät es sei. »Wie spät?« fragte der Mann, indem er Georg von oben bis unten musterte, da er ihn augenscheinlich für ein verdächtiges Subjekt hielt. »Ei, wenn Sie aufpassen, werden Sie gleich die Turmuhr schlagen hören.« Georg lauschte, und eine benachbarte Glocke war sofort so gefällig zu schlagen. »Ja, es hat aber nur drei geschlagen!« rief Georg ganz beleidigt aus. »Nun, wieviel hätte es für Sie denn schlagen sollen?« fragte der Polizeidiener. »I, nun – neun Uhr,« – sagte Georg, indem er auf die Uhr zeigte. »Wissen Sie, wo Sie wohnen?« fragte der Mann des Gesetzes in strengem Tone. Georg dachte etwas nach und gab ihm dann seine Adresse an. »O, da wohnen Sie wirklich?« sagte der Mann. »Nun, ich denke, Sie folgen meinem Rat und gehen hübsch ruhig dahin, stecken diese Ihre Uhr wieder in die Tasche und lassen uns im übrigen ungeschoren.« In tiefe Betrachtungen versunken, ging Georg heim und war wiederum sein eigener Portier. Zuerst wollte er sich wieder auskleiden und noch einmal zu Bette gehen – aber da dachte er, daß er sich dann ja noch einmal ankleiden und waschen und baden müßte, und so entschloß er sich, aufzubleiben und im Armstuhl zu schlafen. Aber es gelang ihm nicht, wieder in Schlaf zu fallen; er war in seinem ganzen Leben nie so munter gewesen. So zündete er sich denn die Lampe an, zog das Schachspiel heraus und spielte eine Partie Schach mit sich selbst. Aber auch das konnte keine rechte Freude in ihm erwecken. Er wußte nicht, wie es kam; aber diese Unterhaltung dünkte ihn nachgerade etwas langweilig; so gab er denn das Schachspiel auf und versuchte etwas zu lesen. Aber die Fähigkeit, sich für irgendein Buch zu interessieren, schien ihm plötzlich abhanden gekommen zu sein. So zog er denn seinen Überrock wieder an und trat hinaus, um einen Spaziergang zu machen. Draußen war es schrecklich einsam und düster; alle Polizeidiener, die ihm begegneten, schauten ihn mit unverhohlenem Argwohn an, richteten ihre Laternen auf ihn und gingen ihm nach. Das übte eine solch niederschmetternde Wirkung auf ihn aus, daß er sich zuletzt wie ein wirklicher Bösewicht vorkam und sich seitwärts in die Nebengäßchen schlug und an dunklen Einfahrtstoren verkroch, wenn er die heilige Hermandad anrücken hörte. Natürlich machte dies Benehmen die Polizei nur noch mißtrauischer gegen ihn. Sie kamen, stöberten ihn hervor und fragten ihn, was er da zu tun habe; und wenn er nun antwortete: Nichts, er habe nur ein bißchen bummeln wollen – es war' jetzt vier Uhr morgens –, schauten sie ihn ungläubig an, und zwei dunkelgekleidete Konstabler begleiteten ihn nach Hause, um zu sehen, ob er wirklich da wohne, wo er angab. Als sie ihn mit seinem Schlüssel öffnen und hineingehen sahen, nahmen sie dem Hause gegenüber Aufstellung und beobachteten es. Als er wieder in seiner Wohnung angekommen war, wollte er sich ein Feuer anzünden und sich ein kleines Frühstück bereiten, eben nur um sich die Zeit zu vertreiben; aber es schien ihm, als ob er unfähig sei, irgend etwas, ob es nun Kohlenschaufel oder Teelöffel hieß, in die Hand zu nehmen, ohne es fallen zu lassen oder darüber zu stolpern und einen solchen Lärm zu verursachen, daß er in Todesangst sein mußte, er würde Frau Gippings aufwecken; diese würde dann sicherlich glauben, es seien Einbrecher im Hause; sie würde das Fenster aufreißen und nach der Polizei schreien, und dann würden die zwei Geheimpolizisten hereinstürmen, ihm Handschellen anlegen und ihn nach der Polizeistation bringen. Er hatte sich in eine tödliche Aufregung hineingearbeitet und malte sich jetzt das Verhör und seine ganz vergeblichen Versuche, dem Gerichtshofe die betreffenden Umstände klar zu machen, in den schwärzesten Farben aus – er sah sich im Geiste schon zu zwanzigjährigem Zuchthaus verurteilt und seine Mutter an gebrochenem Herzen sterben. So gab er denn den Gedanken auf, sich ein Frühstück zu bereiten, hüllte sich in seinen Überrock und blieb im Lehnstuhl sitzen, bis Frau Gippings um halb acht Uhr herunterkam. Georg sagte, seit jenem Morgen sei er nie wieder zu früh aufgestanden, so sehr habe er sich jenen Fall zur Warnung dienen lassen. Während Georg mir diese wahrhaftige Geschichte erzählte, hatten wir, in unsere Pelze eingehüllt, dagesessen, und als er damit zu Ende war, machte ich mich daran, Harris mit einem Ruder aufzuwecken; der dritte Stoß hatte die beabsichtigte Wirkung; er legte sich auf die andere Seite und sagte, er werde im Augenblick hinunterkommen, man solle ihm heute seine Schnürstiefel bringen. Wir ließen ihn aber mit Hilfe des Boothakens bald merken, wo er sich befinde; er richtete sich plötzlich in die Höhe, indem er zugleich Montmorency, der mitten auf seiner Brust den Schlaf des Gerechten geschlafen, zappelnd und krabbelnd auf den Boden des Bootes warf. Dann schlugen wir die Leinwand etwas zurück, streckten alle vier die Köpfe hinaus, sahen hinab auf das Wasser – und schauderten. Am Abend zuvor hatten wir den Gedanken gehabt, heute morgen früh aufzustehen, unsere Teppiche und Schals abzuwerfen, uns mit einem fröhlichen Sprung kopfüber in das Wasser zu stürzen und uns durch ein langes, köstliches Schwimmbad zu erfrischen. Aber sonderbar – jetzt am Morgen schien uns das Bad viel weniger verführerisch. Das Wasser sah so feucht und frostig aus, und der Wind war so kalt. »Na!« sagte Harris, »wer wird der erste sein?« Es gab aber keinen edlen Wettstreit wegen des Vortritts. Georg kam sofort zu einem Entschluß, soweit ihn die Sache betraf. Er kehrte in die Mitte des Bootes zurück und zog seine Socken an. Montmorency stieß unwillkürlich ein Geheul aus, als ob ihm schon der Gedanke an ein solches Frühbad Grausen erregt hätte. Harris meinte, es würde so schwierig sein, nach dem Bade wieder in das Boot zu steigen, wandte sich ebenfalls zurück und suchte sich seine Beinkleider aus. Ich wollte mich nicht gerade feig zeigen, obschon auch mir das Frühbad nicht behagen wollte. Da unten könne es verborgene Pfosten oder Tang geben, dachte ich. Da entschloß ich mich zu einem Vergleich: ich wollte am Rande des Flusses nur eben ein bißchen Wasser über mich herspritzen. So ergriff ich denn ein Badetuch, stieg aus und kroch bis zu einem ins Wasser hängenden Ast eines Uferbaumes. Es war bitterlich kalt. Der Wind schnitt wie ein Messer. Ich dachte, ich wollte doch lieber kein Wasser über mich spritzen, sondern in das Boot zurückkehren und mich ankleiden. Ich wandte mich, um dem Gedanken die Tat folgen zu lassen, aber beim Umkehren brach der dumme Zweig, an dem ich mich gehalten hatte, ab: ich stürzte samt dem Tuch mit einem fürchterlichen Platschen ins Wasser und war, ehe ich mich recht besinnen konnte, was geschehen war, draußen mitten im Strome, mit einem Maß Themsewasser im Leibe. »Bei Gott! Der alte Jerome hat sich hineingewagt,« hörte ich Harris sagen, als ich spritzend und pustend wieder an die Oberfläche kam. »Ich hätte nicht gedacht, daß er so viel Mut haben würde; hättest du es ihm zugetraut?« »Ist es nett?« rief Georg zu mir herüber. »O herrlich!« sprudelte ich zurück. »Ihr seid recht dumm, wenn ihr nicht auch 'rein kommt. Nicht um die Welt würde ich auf dieses Vergnügen verzichten. Warum wollt ihr es denn nicht auch versuchen? Es braucht nur etwas Entschlossenheit!« Aber ich konnte sie nicht überreden. An diesem Morgen passierte uns beim Ankleiden noch eine heitere Geschichte. Mir war sehr kalt, als ich von meinem Bade wieder ins Boot stieg; wie ich nun hastig mein Hemd anziehen wollte, fiel es mir ins Wasser. Ich erboste mich schrecklich darüber, besonders weil Georg in ein furchtbares Gelächter ausbrach. Ich konnte doch gar nichts Lächerliches dabei finden, wie ich Georg auch auseinandersetzte, aber er lachte nur noch unbändiger. Ich habe niemals einen Menschen so lachen sehen. Ich geriet zuletzt ganz außer mir und bedeutete ihm, was für ein närrischer, hirnverbrannter, verschrobener, verrückter Kerl er sei; aber er lachte nur noch unsinniger. Da bemerkte ich, als ich eben das Hemd wieder herausgefischt hatte, daß es gar nicht mein Hemd war, sondern Georgs, das ich in der Eile mit dem meinigen verwechselt hatte. Das erweckte in mir plötzlich das Verständnis für den Humor der Sache, und nun fing ich an zu lachen. Und je länger ich Georgs nasses Hemd und dann wieder den aus vollem Halse lachenden Georg betrachtete, um so mehr belustigte mich die Geschichte, und ich lachte so sehr, daß mir das nasse Hemd wieder ins Wasser fiel. »Ei, willst du es denn nicht wieder herausfischen?« fragte Georg, noch halb erstickt vor Lachen. Eine geraume Weile konnte ich ihm vor Lachen keine Antwort geben; endlich aber stieß ich unter schallendem Gelächter die Worte hervor: »Es ist ja gar nicht mein Hemd! Es ist deines!« In meinem Leben habe ich nie den Gesichtsausdruck eines Menschen so plötzlich wechseln sehen wie jetzt Georgs. »Was?« rief er, in die Höhe springend, »du Einfaltspinsel! Was zum Teufel hast du dich nicht draußen am Ufer ankleiden können? Du gehörst nicht in ein Boot, du Dummkopf, gib mir den Boothaken!« Ich versuchte, ihm den Spaß der Geschichte klar zu machen, aber es fehlte ihm an Verständnis. Georg ist manchmal zu vernagelt, um die Komik der Lage zu verstehen. Jetzt schlug uns Harris Rührei zum Frühstück vor. Er sagte, er wolle es bereiten. Nach seinen Worten zu schließen, mußte er die Bereitung von Rührei sehr wohl verstehen. Er habe es bei Landpartien und Bootfahrten schon oft gemacht. Er sei in diesem Stück schon ganz berühmt geworden; Leute, die einmal von seinem Rührei gegessen, gab er uns zu verstehen, hätten nachher absolut nichts anderes mehr essen wollen oder können. Sie hätten sich fast zu Tode gegrämt, wenn sie es sich nicht verschaffen konnten. Er machte uns mit diesen Berichten wirklich den Mund wässerig; so händigten wir ihm denn das Herdchen, die Bratpfanne und alle Eier, die noch nicht flöten gegangen waren, ein und baten ihn, ans Werk zu gehen. Mit dem Aufschlagen der Eier haperte es etwas, d. h. das Aufschlagen brachte er schon fertig; aber sie richtig in die Pfanne zu bringen, wenn sie offen waren, sie nicht an seine Hosen zu schmieren, und sie nicht an den Ärmeln hinauflaufen zu lassen, das war die Schwierigkeit. Zuletzt brachte er doch ungefähr ein halbes Dutzend in die Pfanne hinein; nun hockte er neben dem Herde nieder und stupste dann mit einer Gabel darin herum. Es schien ein schwieriges Geschäft zu sein, soviel Georg und ich die Sache beurteilen konnten. So oft er der Pfanne nahe kam, brannte er sich; dann ließ er alles fallen, was er in der Hand hatte, tanzte um den Ofen herum schnippte mit den Fingern und schimpfte weidlich auf das verwünschte Gerät. In der Tat, so oft Georg und ich nach ihm hinsahen, passierte ihm etwas Derartiges. Wir glaubten zuerst, das gehöre als etwas Wesentliches zu seiner kulinarischen Kunstentwicklung. Wir wußten damals noch nicht, was Rührei eigentlich ist, und dachten, es sei entweder irgendein von den Rothäuten oder den Sandwichinsulanern stammendes Gericht, bei dessen richtiger Zubereitung Tänze und Zaubersprüche unerläßlich seien. Montmorency war auch neugierig und steckte seine Nase darüber; da spritzte das Fett in die Höhe und verbrannte ihn, und nun begann der auch zu tanzen und zu schimpfen. Alles in allem war diese Eierbereitung einer der interessantesten Vorgänge, deren ich jemals Zeuge gewesen. Georg und ich bedauerten es lebhaft, als sie zu Ende war. Das Resultat entsprach indessen Harris' Erwartungen nicht ganz. »Viel Geschrei und wenig Wolle,« konnte man da sagen. Sechs Eier waren in die Pfanne gelangt, was herauskam, war ein Teelöffel voll verbrannten, unappetitlich aussehenden Gerichts. Harris sagte, die Bratpfanne sei schuld daran; die Sache wäre viel besser geworden, wenn wir einen Fischkessel und ein Gasherdchen gehabt hätten; da beschlossen wir denn, dies Gericht nicht wieder zu bereiten, ehe wir uns diese Haushaltungsgegenstände angeschafft hätten. Die Sonne war inzwischen mächtiger geworden, auch der Wind hatte nachgelassen, als wir unser Frühstück beendigt hatten; der Morgen war so lieblich, als er nur sein konnte. Nur wenig war in Sicht, was uns an das neunzehnte Jahrhundert erinnern konnte; und als wir auf den Fluß hinausschauten, der so ruhig dahinfloß, konnten wir uns beinahe einbilden, daß die Jahrhunderte, die zwischen uns und jenem ewig denkwürdigen Junimorgen des Jahres 1215 liegen, versunken seien, und daß wir, die Söhne englischer Freisassen, in selbstgesponnener Kleidung, den Dolch im Gürtel, hier warteten, um zuzusehen, wie jene merkwürdige Seite der Geschichte geschrieben wurde, deren Sinn dem gemeinen Volk vier Jahrhunderte später durch einen gewissen Oliver Cromwell verständlich gemacht werden sollte. Es ist ein schöner Sommermorgen, sonnig, sanft und ruhig. Aber durch die Luft geht ein Hauch kommender Bewegung. Der König Johann hat in Duncroft-Hall übernachtet, und den ganzen Tag zuvor hat die kleine Stadt Staines widergehallt von dem Waffenklang der Ritterschaft, dem Hufschlag der schweren Rosse auf dem rauhen Pflaster, den Befehlen der Hauptleute, den grimmen Flüchen und rohen Scherzen der bärtigen Bogenschützen, Streitaxtbewaffneten, Lanzenreiter und seltsam sprechenden fremden Spießträger. Abteilungen buntgekleideter Ritter und Schildknappen sind hereingeritten, ganz bestaubt von der Reise. Den ganzen Abend mußten die furchtsamen Einwohner ihre Wohnungen schleunigst öffnen, um immer noch weitere Haufen roher Söldnerscharen aufzunehmen, welchen sie Nahrung und Nachtquartier geben mußten, beides, so gut sie es irgend vermochten, oder wehe den Häusern und allem, was darin war! Denn in diesen stürmischen Zeiten ist das Schwert Richter, Kläger und Gerichtsvollzieher zugleich und bezahlt für das, was es nimmt, nur damit, daß es die am Leben läßt, welche es zuvor nach Belieben beraubt hat. Um das Lagerfeuer auf dem Marktplatz lagern noch weitere Knappen der Barone, essen und trinken viel, brüllen dazu ihre rauhen Trinklieder und spielen und streiten bis tief in die Nacht hinein. Das flackernde Wachtfeuer wirft sonderbare Lichter auf die aufgestellten Waffen und auf ihre ungeschlachten Gestalten. Und die Kinder der Stadt stellen sich herzu und staunen sie an; stattliche Landdirnen nähern sich lachend den Bierschenken, um ihren Scherz zu treiben mit den prahlenden Kriegern, die so ganz anders sind als ihre Liebhaber vom Dorfe, die jetzt verachtet beiseite stehen und nur ohnmächtigen Grimm auf ihren breiten Gesichtern zur Schau tragen. Und draußen im Felde ringsum leuchten die Lichter der entfernteren Lagerfeuer, um die sich die Truppen einiger mächtiger Herren gelagert haben, und dort drücken sich des falschen Johann französische Söldner gleich schleichenden Wölfen um die Stadt herum. Wachen stehen an allen dunklen Straßenecken, während ringsumher auf jeder Anhöhe die Wachtfeuer glimmen; so geht die Nacht hin; und über dieses schöne Tal der alten Themse ist der Morgen des großen Tages hereingebrochen, der mit dem Schicksal noch ungeborener Jahrhunderte geschwängert enden sollte. Seit Tagesgrauen ertönt auf der unteren der beiden Inseln – gerade oberhalb unseres jetzigen Standorts – großer Lärm von den Werkzeugen der Zimmerleute. Das große Zelt, das gestern hereingebracht wurde, soll heute morgen aufgeschlagen werden; die Zimmerleute bringen ringsumher Sitzreihen an, während Londoner Ladenburschen mit vielfarbigen Stoffen, mit Seide und golddurchwirktem Tuch ankommen. Und jetzt, siehe, dort auf der Straße, die sich von Staines her längs des Flusses hinzieht, kommt ein Fähnlein stahlgepanzerter Hellebardiere, lachend und in tiefen Baßtönen miteinander scherzend, auf uns zu. Es sind die Leute einiger Barone; sie halten ein paar hundert Schritte oberhalb unseres Standorts am andern Ufer, lehnen sich auf ihre Waffen und warten. Und so, von Stunde zu Stunde, marschieren immer weitere Truppen und Horden gewappneter Männer auf – ihre Helme und Stahlpanzer glänzen im Morgenlicht – bis, soweit das Auge reicht, der Weg dicht mit schimmernden Waffen und stolzen Rossen besetzt ist. Daher sprengen Reiter und geben von Gruppe zu Gruppe ihre Befehle; die kleinen Banner bewegen sich leicht im Winde, hie und da ist eine lebhaftere Bewegung in den Reihen zu bemerken, wenn sie Platz machen müssen, um irgendeinen großen Baron auf seinem Schlachtrosse, von einem Haufen seiner Knappen umgeben, seinen Stand in der Mitte seiner Diener und Vasallen einnehmen zu lassen. Und oben auf dem Coopersberge, uns gerade gegenüber, hat sich das staunende Land- und neugierige Stadtvolk versammelt, das von Staines herausrannte, wenn auch keiner weiß, was all das Getriebe bedeuten soll; aber jeder hat eine andere Erklärung für die Dinge, die da kommen sollen, und einige sagen, daß der heutige Tag dem Volke viel Gutes bringen werde, aber die alten Leute schütteln die Köpfe, denn sie haben solche Redensarten schon mehr gehört! Und der ganze Fluß bis hinunter nach Staines wimmelt von kleinen Booten und Barken und winzigen ledernen Fischerkähnen, welch letztere jetzt mehr und mehr in Abgang kommen und nur noch von armen Leuten benutzt werden. Über die Stromschnellen, wo nachmals die Bellweir-Schleuse errichtet werden sollte, sind sie mit Hilfe ihrer handfesten Rudersleute hinabgesteuert, und nun drängen sie sich, so nahe sie können, an die großen Barken, welche hier in Bereitschaft liegen, um den König Johann dahin zu bringen, wo die verhängnisvolle Charta seiner Unterschrift wartet. Es ist Mittag, und wir inmitten der andern haben manche Stunde geduldig gewartet; nun geht ein Gerücht, der aalglatte Johann sei dem Griff der Barone abermals entschlüpft, habe sich, im Gefolge seiner Söldner, von Duncroft-Hall weggestohlen und werde bald anderes Werk betreiben, als Freiheitsurkunden für sein Volk unterzeichnen. Aber nein! – Diesmal war es der Griff einer Eisenfaust gewesen; diesmal hat er vergeblich versucht, sich ihr zu entwinden und zu entschlüpfen. In der Ferne steigt eine kleine Staubwolke auf, die, je näher sie rückt, desto größer wird; der Hufschlag wird lauter, und durch die längs des Weges versammelten Haufen bricht sich ein glänzender Aufzug berittener buntgekleideter Herren und Ritter Bahn. Und vorn und hinten und zu beiden Seiten reiten die Vasallen der Barone und in deren Mitte – König Johann. Er reitet dahin, wo die Barken in Bereitschaft liegen, und die großen Barone verlassen ihren Platz, um ihn zu begrüßen. Er begrüßt sie mit heiterem Lachen und honigsüßen Worten, als ob es sich um irgendein Fest handle, das ihm zu Ehren gegeben werde. Aber indem er sich erhebt, um abzusteigen, wirft er rasch noch einen Blick auf seine französischen Söldnerscharen, die sich ganz im Hintergrunde hatten aufstellen müssen, und auf die festgeschlossenen Reihen der Barone und ihrer Leute, die ihn auf allen Seiten einschließen. Wäre es wirklich zu spät? Ein kräftiger Schlag auf die ahnungslosen Reiter an seiner Seite, ein Kommandoruf an seine fränkische Garde, ein verzweifelter Angriff auf die unbereiten Linien vor ihm, und diese rebellischen Barone könnten den Tag bereuen müssen, an dem sie es wagten, seine Pläne zu kreuzen! Eine kühnere Hand würde vielleicht das Spiel gewagt und selbst in diesem Augenblick noch gewonnen haben! Ja, wenn ein Richard anstatt eines Johann dagewesen wäre! Dann wäre vielleicht die Schale der Freiheit von Englands Lippen weggerissen und noch für ein Jahrhundert vorenthalten worden! Aber König Johann fühlt sich entmutigt, wie er auf die entschlossenen Mienen der bewaffneten Männer schaut, sein erhobener Arm senkt sich, er steigt ab und nimmt seinen Platz in der vordersten Barke ein. Und die Barone folgen ihm, die eisenbehandschuhte Hand am Schwertgriff; dann ergeht der Befehl, vorwärts zu steuern. Langsam verlassen die schweren, glänzend ausstaffierten Barken das Ufer von Runningmede. Langsam bewegen sie sich, im Kampf mit der starken Strömung, bis sie mit dumpfem Schürfen das Ufer der kleinen Insel streifen, die von diesem Tage an den Namen Magna Charta-Insel trägt. Nun ist König Johann ans Ufer gestiegen, und wir warten in atemloser Stille, bis ein weithin hallender Schrei die Luft durchzittert und wir nun sicher wissen, daß der große Eckstein zu Englands Freiheitstempel felsenfest gelegt ist. * Ich saß am Ufer, während ich die vorher beschriebenen Szenen vor meines Geistes Auge aus dem Dunkel der Jahrhunderte heraufbeschwor, da machte Georg die Bemerkung gegen mich, wenn ich vollständig ausgeruht habe, so werde es mir vielleicht nichts ausmachen, ein wenig beim Aufwaschen zu helfen; auf diese Weise aus den Tagen glorreicher Vergangenheit in die prosaische Gegenwart mit all ihrem Elend und all ihrer Sünde zurückgerufen, schlüpfte ich denn wieder ins Boot hinein, fegte die Bratpfanne mit einem Stück Holz, an welches ich ein Bündel Gras befestigt hatte, und rieb sie zuletzt mit Georgs nassem Hemd glänzend. Wir gingen dann nach der Magna Charta-Insel hinüber und beschauten uns den Stein, der dort in der Hütte steht, auf welchem die große Charta unterzeichnet worden sein soll; ich möchte mich indessen nicht dafür verbürgen, daß dies wirklich hier und nicht am andern Ufer in Runningmede geschehen ist. Was meine eigene Meinung anbetrifft, so bin ich eher geneigt anzunehmen, daß es auf der Magna Charta-Insel, wie die Volkssage will, geschehen sei. – Gewiß, wäre ich einer der Barone jener Zeit gewesen, so würde ich fest darauf bestanden haben, daß es sehr geraten sei, einen so schlüpfrigen Kameraden wie König Johann nach dem Eiland zu bugsieren, wo sich ihm weniger Gelegenheit für Überraschungen und Verrat darbot. Auf dem Grund von Ankerwyke, nahe bei Picnic-Point, sieht man heute noch die Ruinen eines alten Klosters. In dieser Gegend soll Heinrich VIII. seine Zusammenkünfte mit Anna Boleyn gehabt haben. Aber er pflegte solche auch auf Bever Schloß in der Grafschaft Kent und auch irgendwo in der Gegend von St. Albans zu halten. Es muß für das englische Volk damals ziemlich schwierig gewesen sein, einen Platz zu finden, wo dieses gedankenlose junge Volk sich nicht umhertrieb! Wart ihr jemals in einem Hause, wo ein Liebespaar sich gerade aufhielt? O, das zählt schon zu dem Unangenehmsten auf dieser Welt. Ihr wollt euch ein Weilchen im Salon aufhalten und begebt euch dahin. Beim Öffnen der Tür hört ihr ein Geräusch, als ob sich jemand plötzlich nach einem zuvor vergessenen Gegenstand umsehen wollte, und wenn ihr dann eingetreten seid, so steht Emilie am Fenster und schaut voll Interesse nach der entgegengesetzten Seite der Straße, während euer Freund Johann Eduard am anderen Ende des Salons durch den Anblick von Photographien von Leuten, die er gar nicht kennt, völlig gebannt zu sein scheint. »O,« sagt ihr und bleibt am Eingang stehen, »Verzeihung, ich wußte nicht, daß jemand hier sei.« »O,« sagt Emilie in ihrem kühlsten Tone, der euch deutlich zu verstehen gibt, daß sie euch nicht glaubt; »Sie haben es nicht gewußt?« Dann drückt ihr euch noch ein Weilchen herum und fragt dann: »Warum habt ihr denn das Gas nicht angezündet? Es ist doch so dunkel hier!« Und Johann Eduard sagt: »O, ich habe es nicht bemerkt.« Und Emilie setzt schnippisch hinzu: »Papa liebt es nicht, wenn nachmittags das Gas angezündet wird.« Nun erzählt ihr den jungen Leuten ein paar Tagesneuigkeiten oder gebt ihnen eure Ansicht über die irische Frage zum besten; aber all das scheint sie nicht im mindesten zu interessieren, alles, was sie über den Gegenstand bemerken, ist: »O, wirklich! Nicht möglich. – Ach so! Was Sie nicht sagen!« Und nachdem ihr zehn Minuten lang diese Art Unterhaltung genossen habt, drückt ihr euch allmählich gegen die Tür und schlüpft hinaus, wobei ihr mit Erstaunen bemerkt, daß sie sich unmittelbar hinter euch schließt, ohne daß ihr sie berührt habt. Eine halbe Stunde später denkt ihr, im Wintergarten würde sich hübsch ein Pfeifchen rauchen lassen. Aber der einzige Stuhl darin ist von Emilien besetzt, und Eduard, wenn man sich auf die Sprache der Kleider verlassen darf, muß augenscheinlich auf dem Boden gesessen haben. Und sie sprechen nicht, aber sie sehen euch an mit Blicken, die alles ausdrücken, was man sich in zivilisierter Gesellschaft nicht sagen darf. Ihr nehmt einen schleunigen Rückzug und schließt die Tür hinter euch. Jetzt habt ihr aber wirklich Angst, eure Nase noch in irgendein Zimmer im Hause hineinzustecken; so geht ihr denn eine Weile die Treppe auf und ab, bis ihr euch entschließt, euch in eurem Schlafzimmer niederzusetzen. Das wird euch aber auf die Dauer recht langweilig; so setzt ihr denn euren Hut auf und geht hinaus in den Garten; euer Weg führt euch an dem Pavillon vorbei, und wie ihr da einen Blick hineinwerft, seht ihr darin in einer Ecke zusammengedrängt jene zwei närrischen jungen Leute. Und sie sehen euch auch und sind offenbar des Glaubens, daß ihr sie absichtlich und böswillig überallhin verfolgt. »Warum hat man denn für dergleichen nicht ein besonderes Zimmer, wo sich solches Volk aufzuhalten verpflichtet wäre?« brummt ihr in eurem Ärger, rennt zurück nach dem Hause, greift nach eurem Regenschirm und geht aus. Ähnlich muß es früher wohl auch schon zugegangen sein, als jener närrische Knabe, Heinrich VIII., seiner kleinen Anna den Hof machte. Die Leute aus der Grafschaft Buckingham haben sie wohl öfter überrascht, wenn sie um Windsor und Wraysbury ihre Mondscheinpromenaden machten. Und wenn die Leute dann ausriefen: »O, Sie sind es!«, so pflegte wohl Heinrich errötend zu sagen: »Ja! Ich habe nach jemand sehen wollen«; und Anna pflegte dann wohl hinzuzusetzen: »O, wie freue ich mich, Sie zu sehen. Ist das nicht sonderbar, eben bin ich mit Herrn Heinrich VIII. auf diesem Feldweg zusammengetroffen, und nun, denken Sie sich nur, geht er denselben Weg wie ich.« Dann pflegten jene Leute wohl zueinander zu sagen: »O, wir tun besser daran, uns aus dem Staub zu machen, solange dies Girren und Balzen hier herum zu hören ist. Wir wollen nach Kent hinab.« Und kamen sie dann nach Kent, so war das erste, was sie dort gewahrten, Heinrich VIII. und Anna, die Schloß Bever unsicher machten. »O, daß doch ein Donnerwetter!« rufen sie nun wütend aus. »Wir wollen fort von hier. Ich kann das nicht länger mehr ertragen. Wir wollen nach St. Albans. Ein netter, ruhiger Ort, dieses St. Albans.« Und wenn sie nun nach St. Albans kamen, wen trafen sie da? Wiederum jenes verwünschte Liebespärchen, das sich an der Mauer der alten Abtei herzte und küßte. Da war es denn kein Wunder, wenn jene guten Leute die Gegend verließen und Seeräuber wurden, bis die Hochzeit vorbei war. Von Picnic-Point aufwärts bis zur Schleuse bei Windsor bietet der Fluß ein reizendes Bild dar. Ein schattiger Weg, an dem dann und wann ein kleines grünumsponnenes Landhaus steht, zieht sich längs des Ufers hin bis zu den »Glocken von Onseley«, einem malerisch aussehenden Wirtshause (nebenbei bemerkt, die meisten dieser Wirtshäuser am Fluß sehen malerisch aus), wo ein gutes Glas Bier winkt, so sagt uns wenigstens Harris, und bei einer derartigen Sache kann man sich auf sein Wort verlassen. Das liebe, alte Windsor ist ein eigenartig berühmter Ort. Eduard der Bekenner hatte hier einen Palast; und hier wurde der mächtige Graf Godwin durch die damaligen Gerichte für schuldig befunden, den Tod des Bruders des Königs verschuldet zu haben. Der Graf Godwin brach ein Stückchen Brot ab und hielt es in die Höhe. »Dies Brot soll mir den Tod bringen, wenn ich schuldig bin,« rief er aus; dann schob er das Brot in den Mund, aß es – und erstickte daran. Als wir an Datched vorüberkamen, fragte mich Georg, ob ich mich auch noch unserer ersten Fahrt auf dem Flusse erinnere, und wie wir um zehn Uhr nachts in Datched gelandet, um dort zu übernachten. »Na ob,« antwortete ich ihm. Es wird noch eine geraume Zeit dauern, bis ich es vergesse. Es war am Samstag vor dem Augustfeiertag.[Fußnote: An den sogenannten Bankfeiertagen, namentlich an dem im August, pflegt in England alles los und ledig zu sein.] Wir waren müde und hungrig – wir nämlichen drei – und als wir nach Datched kamen, zogen wir unseren Korb heraus sowie unsere zwei Koffer, Teppiche, Überzieher und dergleichen und begaben uns auf die Suche nach irgendeinem Unterschlupf. Wir kamen an ein ganz ordentlich aussehendes Wirtshaus, dessen Eingang mit Klematis und anderen Schlingpflanzen umsponnen war. Aber Geißblatt war nicht darunter; ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund ich meinen Kopf nun einmal auf Geißblatt gesetzt hatte; aber auf Geißblatt gesetzt hatte ich ihn; deshalb erklärte ich meinen Gefährten: »O, da wollen wir nicht hinein! Wir wollen etwas weiter gehen und sehen, ob nicht auch ein Wirtshaus kommt, das von Geißblatt umrankt ist.« So gingen wir weiter, bis wir zu einem Hotel kamen. Auch das war ein ganz nettes Hotel, und es war auf der Seite mit Geißblatt überwachsen; aber Harris gefiel das Aussehen eines Menschen nicht, der am Eingange lehnte. Harris sagte, der Mann sehe gar nicht liebenswürdig aus, und er habe so abscheuliche Stiefel an. So gingen wir denn weiter. Nachdem wir eine gute Weile marschiert waren und kein weiteres Hotel angetroffen hatten, ersuchten wir einen Vorübergehenden, uns nach einigen zu weisen. Der Mann meinte: »Ei! Sie kommen ja von ihnen her! Sie müssen umkehren und gerade wieder zurückgehen, dann kommen Sie zum ›Hirschen‹«! Wir darauf: »O, dort waren wir schon, aber es gefiel uns nicht; es ist ja kein Geißblatt daran!« »Nun,« sagte der Mann, »dann ist ja dort das ›Herrenhaus‹ gerade gegenüber. Haben Sie es dort schon versucht?« Harris sagte, dahin wollten wir nicht gehen; er habe da einen Mann gesehen, der ihm nicht gefallen habe; die Farbe seines Haares habe ihm nicht gefallen, seine Stiefel ebenfalls nicht. »Ja, dann ist guter Rat teuer,« sagte unser Cicerone, »denn das sind die einzigen Wirtshäuser dieses Orts.« »Sonst keine Wirtshäuser?!« rief Harris verzweiflungsvoll. »Nein, keine!« entgegnete der Mann. »Ja, um des Himmels willen! Was fangen wir denn jetzt an?« Jetzt ergriff Georg das Wort; er sagte, Harris und ich, wir könnten uns ein Hotel, speziell für uns zwei, bauen und auch gleich die Kunden dafür backen lassen, wenn es uns beliebe. Er für sein Teil gehe zurück zum »Hirschen«. Den größten Geistern gelingt es ja selten, ihre Ideale zu verwirklichen; da seufzten denn ich und Harris über die Hohlheit alles irdischen Strebens und folgten Georg. Wir brachten unsere Sachen in den »Hirschen« und legten sie in der Vorhalle nieder. Der Wirt kam und sagte: »Guten Abend, meine Herren!« »O! Guten Abend!« sagte Georg. »Wir möchten drei Betten haben.« »Tut mir leid, meine Herren!« sagte der Wirt, »aber ich fürchte, es wird nicht gehen.« »Nun,« sagte Georg, »es macht nichts! Zwei Betten tun's auch! Zwei von uns können in einem Bett schlafen, nicht wahr?« Hierbei wandte er sich gegen Harris und mich. Harris sagte: »O freilich«; er dachte, Georg und ich könnten wohl in einem Bett schlafen. »Tut mir sehr leid,« wiederholte der Wirt, »aber wir haben in der Tat im ganzen Hause kein einziges Bett frei. Wir haben wirklich schon zwei und selbst drei Herren in einem Bett untergebracht!« Dies machte uns denn doch etwas bedenklich, aber Harris, der schon viel gereist ist, zeigte sich jetzt in seiner ganzen Größe, indem er heiter lachend ausrief: »Ah, das läßt sich nun einmal nicht ändern. Sie müssen uns eben im Billardzimmer ein primitives Lager aufschlagen.« »Tut mir sehr leid, mein Herr! Es liegen bereits drei Herren auf dem Billard,« sagte der Wirt, »und zwei im Kaffeesaal. Ich kann Sie heute unmöglich über Nacht behalten.« Da nahmen wir unsere Sachen wieder auf und gingen hinüber nach dem »Herrenhaus«. Ich sagte, es gefalle mir doch besser als das andere, und Harris sagte: »O ja; es werde gewiß ganz nett sein; wir brauchten ja auch den Mann mit dem roten Haar nicht anzusehen; überdies könne der arme Teufel wahrscheinlich nichts dafür.« Harris sprach ganz freundlich und verständig darüber. Aber die Wirtsleute im »Herrenhaus« ließen uns nicht lange Zeit zu unserer Unterhaltung. Die Wirtin begrüßte uns schon auf der Treppe mit den Worten, wir seien bereits die vierzehnte Gesellschaft, die sie seit den letzten anderthalb Stunden habe abweisen müssen. Auf unsere sanften Andeutungen betreffs Billardzimmer, Ställe oder Kohlenschuppen hatte sie nur ein überlegenes Lächeln; diese Schlupfwinkel seien alle schon längst weggeschnappt und belegt. Ob sie vielleicht im Dorfe ein Plätzchen wüßte, wo wir über Nacht bleiben könnten? Nun, wenn es uns nicht darauf ankäme, sie könne es zwar nicht empfehlen, gewiß nicht, aber eine Viertelstunde weiter auf dem Wege nach Eton, da sei eine kleine Bierschenke. Wir wollten nicht weiter hören, wir faßten den Korb, die Reisesäcke, die Überzieher, die Plaids und die Pakete und rannten davon. Die Entfernung schien uns eher eine halbe denn eine Viertelstunde zu betragen; doch endlich erreichten wir die Schenke und stürmten atemlos hinein. Der Schenkwirt und seine Leute waren gefühllos. Sie lachten uns bloß aus. Es gäbe nur drei Betten im ganzen Haus und darin hätten sie schon sieben ledige Herren und zwei verheiratete Paare untergebracht. Ein gutmütiger Fischer, der gerade in der Schenkstube war, meinte, wir könnten es ja bei dem Krämer versuchen, der neben dem »Hirschen« wohne; so gingen wir denn wieder zurück. Bei den Krämersleuten war alles besetzt. Eine alte Frau, die wir im Laden antrafen, war so gutherzig, uns ungefähr eine Viertelmeile weit zu einer alten Freundin von ihr, welche gelegentlich Zimmer an Fremde vermiete, mitzunehmen. Die alte Frau bewegte sich sehr langsam vorwärts, so daß wir wohl zwanzig Minuten unterwegs waren. Während wir so dahintrippelten, erheiterte sie uns durch die Beschreibung all der verschiedenen Gebresten, die sie in ihrem Rücken verspüre. Aber ihrer Freundin Zimmer war vermietet; von dort wurden wir an Haus Nr. 27 gewiesen. Nr. 27 war besetzt und sandte uns zu Nr. 32. Auch dieses Haus war vermietet. Jetzt gingen wir zurück auf die Landstraße, wo sich Harris mit der Erklärung, daß er nimmer weitergehe, auf den Korb niedersetzte. Er meinte, es sei hier ein ruhiges Plätzchen; hier werde er gerne sterben. Er ersuchte Georg und mich, seine Mutter noch einmal von ihm zu grüßen und zu küssen und allen seinen Freunden zu sagen, daß er ihnen vergeben habe und selig gestorben sei. In diesem Augenblick kam uns ein Engel, zugesandt in der Gestalt eines kleinen Knaben (ich kann mir keine eines Engels würdigere Gestalt denken) mit einer Bierkanne in einer Hand und in der andern ein Etwas an einer Schnur, das er auf jeden Stein auf dem Wege auffallen ließ, um es dann wieder in die Höhe zu schnellen, was jedesmal einen wenig anziehenden, beinahe kläglichen Ton hervorbrachte. Wir fragten diesen himmlischen Boten (als einen solchen haben wir ihn nachmals erkannt), ob er hier herum irgendein einsames Haus wüßte, mit nur wenigen schwächlichen Bewohnern (ältliche Damen oder lahme Herren würden wir vorziehen), die man leicht so weit einschüchtern könnte, daß sie ihre Betten für diese Nacht an drei desperate Männer abtreten würden; aber im Fall es damit nichts wäre, ob er uns vielleicht einen leeren Schweinestall oder einen nicht mehr im Gebrauch stehenden Kalkofen oder irgend etwas Derartiges empfehlen könne. – Nichts von alledem war ihm bekannt, wenigstens kein netter derartiger Ort; doch wenn wir mit ihm kommen wollten, sagte er, seine Mutter habe ein Schlafzimmer und könnte uns über Nacht behalten. Wir fielen dem Knaben um den Hals, während der Mond auf uns herniederschaute, und küßten ihn; es hätte ohne Zweifel ein schönes Gemälde abgegeben, wenn nur der Knabe nicht so sehr von unserer Rührung überwältigt worden wäre, daß er sich nicht mehr aufrecht halten konnte, sondern zu Boden fiel, und wir alle drei über ihn her. Auch Harris war so sehr von der Freude übermannt, daß er ohnmächtig wurde und des Knaben Bierkanne erfassen und zur Hälfte leeren mußte, ehe er wieder zu sich selber kommen konnte; dann raffte er sich plötzlich auf und rannte davon, Georg und mir die Sorge für unser Gepäck überlassend. – Es war ein kleines, vier Zimmer enthaltendes Häuschen, wo der Knabe mit seiner Mutter lebte; diese gute Seele gab uns gerösteten Speck zum Nachtessen. Es waren fünf Pfund, aber wir aßen ihn ganz auf, und ebenso einen Geleekuchen, – und zwei Töpfe Tee tranken wir leer. Dann gingen wir zu Bett. Es waren zwei Betten in dem Zimmer. Das eine war ein zwei und einen halben Fuß breites Rollbett; in diesem schliefen Georg und ich; wir verhinderten unser Herausfallen dadurch, daß wir uns mit einem Leintuch zusammenbanden. Das andere war des Knaben Bett, das Harris ganz für sich allein bekam. Am andern Morgen fanden wir ihn, wie seine nackten Beine zwei Fuß weit über die Bettstatt heraushingen; Georg und ich benützten diese Beine bei unserem Bade als Handtuchständer. Als wir das nächste Mal wieder nach Datched kamen, waren wir nicht mehr so anspruchsvoll in bezug auf ein Hotel. Aber – um auf unsere gegenwärtige Fahrt zurückzukommen – nichts Aufregendes geschah, und wir strebten in gleichmäßigem Trott vorwärts bis in die Nähe der »Affeninsel«, wo wir anhielten und unser Gabelfrühstück verzehrten. Wir machten uns über das kalte Roastbeef her und entdeckten, daß wir den Senf vergessen hatten. Ich glaube nicht, daß ich je in meinem Leben den Senf so sehr vermißt habe, wie damals. Ich mache mir sonst nicht viel aus Senf, ich esse ihn sogar sehr selten, – aber damals hätte ich eine Welt für ein bißchen Senf gegeben! Ich weiß nicht, wie viele Welten es überhaupt im Universum geben mag, aber demjenigen, der mir einen Teelöffel voll Senf gebracht hätte, würde ich sie alle miteinander überlassen haben. Ich kann ganz rabiat werden, wenn ich etwas haben möchte und es nicht bekommen kann. Harris meinte, auch er würde ein paar Welten für ein wenig Senf gegeben haben. Da hätte einer mit einem Topf Senf ein gutes Geschäft machen können; ja, da wäre einer für den Rest seines Lebens geborgen gewesen! Aber, trau einer der Menschennatur! – Wir beide, Harris und ich, hätten bald den Handel wieder rückgängig machen wollen, sobald wir den Senf bekommen hätten. In der Aufregung macht man oft solch ausschweifende Anerbietungen, aber wenn man hinterher darüber nachdenkt, so wird einem natürlich die Lächerlichkeit einer solch übertriebenen Wertschätzung des gewünschten Gegenstandes klar. – So hörte ich einmal einen Herrn, der in der Schweiz eine Bergtour machte, ausrufen: »Eine Welt für ein Glas Bier!« und als er bald darauf ein kleines Wirtshaus erreichte, in welchem Bier zu haben war, da schlug er einen Höllenlärm auf, weil man ihm für eine Flasche Bier fünf Franken abverlangte. Er schrie, es sei das eine schamlose Betrügerei und schrieb darüber einen Bericht an die »Times«. Die Abwesenheit des Senfs warf einen düstern Schatten in unser Leben auf dem Boot. In aller Stille aßen wir unsern Rindsbraten. Unser Dasein erschien uns schal und öde. Wir gedachten der glücklichen Tage unsrer Kindheit und seufzten. Als wir aber bei der Apfeltorte angekommen waren, wurden wir doch wieder etwas heiterer, und als Georg eine Zinnbüchse mit Ananas aus dem Korb hervorzog und mitten in das Boot rollen ließ, fanden wir, daß dieses Leben doch wohl lebenswert sei. Wir alle drei sind große Liebhaber von Ananas. Wir schauten mit freundlichen Blicken die Abbildung auf der Zinnbüchse an, gedachten des Saftes, den sie enthalten würde, und lächelten einander an; Harris hatte sofort seinen Löffel parat, dann suchten wir das Messer, um die Büchse zu öffnen. Wir lehrten den ganzen Korb danach um; dann leerten wir die Reisesäcke aus. Hernach hoben wir die Bretter des Boots in die Höhe. Hierauf schleppten wir alles ans Ufer und schüttelten es aus. Aber kein Büchsenmesser wollte sich finden. Jetzt versuchte Harris die Büchse mit seinem Taschenmesser zu öffnen; aber dabei zerbrach er die Klinge und schnitt sich tief in die Hand; dann versuchte es Georg mit der Schere; aber diese schnellte in die Höhe und hätte ihm um ein Haar ein Auge ausgestochen. Während die beiden ihre Wunden verbanden, versuchte ich mit dem spitzen Ende des Bootshakens ein Loch in die Büchse zu bohren, aber der Haken entschlüpfte mir und warf mich über das Boot hinaus in zwei Fuß tiefes schmutziges Wasser, während die Büchse unversehrt davonrollte und eine Teetasse zerschlug. Jetzt wurden wir alle drei fuchswild. Wir nahmen die heimtückische Büchse ebenfalls ans Ufer; Harris holte einen schweren, scharfkantigen Stein, und ich holte den Mast aus dem Boot; Georg hielt die Büchse und Harris die Spitze des Steines darauf, und ich schwang den Mast mit aller Kraft in die Höhe und schmetterte ihn nieder. Georgs Strohhut war es, der ihm damals das Leben rettete! Er hat diesen Strohhut, d. h. was davon übrig blieb, als eine teure Erinnerung aufbewahrt; und an Winterabenden, wenn die Pfeifen glühen und die Jungen von ihren kühnen Streichen erzählen und von den Gefahren, denen sie glücklich entronnen sind, holt Georg ihn herbei und zeigt ihn den Anwesenden, und die aufregende Geschichte wird aufs neue, jedesmal mit erhabeneren Ausschmückungen, erzählt. Harris kam mit einer bloßen Fleischwunde davon. Daraufhin nahm ich die Büchse allein in Angriff und hieb mit dem Mast darauf, bis ich erschöpft und todestraurig niedersank, worauf Harris sie ergriff. Wir schlugen sie flach, wir schlugen sie wieder zu einem Würfel, wir brachten sie in jede denkbare geometrische Form – aber wir konnten kein Loch hineinbekommen. Dann griff Georg wieder danach und klopfte sie in eine so seltsame, so unheimliche, in ihrer wilden Häßlichkeit so unirdische Form, daß ihm selbst bange davor wurde und er den Mast wegwarf. Jetzt setzten wir uns alle drei rings um das Ding herum und schauten es an. Quer über das obere Ende lief ein Einschnitt, der sich wie ein höhnisches Grinsen ausnahm und uns derart in Wut versetzte, daß Harris sich darauf losstürzte, es erfaßte und mit einem furchtbaren Schwung bis in die Mitte des Stromes hineinwarf, wohin wir ihm unsere Verwünschungen nachsandten. Dann stiegen wir wieder ins Boot, ruderten eilends hinweg von dem Ort und ruhten nicht eher, bis wir Maidenhead erreicht hatten. Maidenhead selbst ist zu übertüncht, um ein angenehmer Aufenthalt zu sein. Es ist ein Aufenthalt für die den Fluß unsicher machenden Sonntagsstutzer mit ihren übertrieben gekleideten Duennas. Es ist eine Stadt voll aufgeputzter Hotels, hauptsächlich von Kommis und Ballettmädchen frequentiert. Es ist die Hexenküche, woraus jene den Fluß heimsuchenden Teufel, jene kleinen Dampfboote hervorgehen. Der Herzog, wie er in der »Londoner Zeitung« figuriert, hat immer sein »kleines Schlößchen« in Maidenhead; und die Heldin der dreibändigen Tagesromane speist regelmäßig dort, wenn sie mit dem Gatten einer andern einen lustigen Tag verbringen will. Schnell passierten wir das schlüpfrige Maidenhead, dann verlangsamten wir die Fahrt, um die nun folgende herrliche Strecke mit Muße zu genießen. Am Abend hatte sich ein steifer Wind erhoben, diesmal merkwürdigerweise zu unseren Gunsten; denn fährt man auf dem Flusse, so ist einem in der Regel der Wind entgegen, welche Richtung man auch einschlagen mag. Wenn ihr auf einen ganzen Tag ausfahren wollt, müßt ihr am Morgen natürlich gegen den Wind fahren; ihr rudert nun eine tüchtige Strecke weit und denkt dabei, wie angenehm bei solchem Wind die Rückfahrt mit aufgehißtem Segel sein werde. Aber nach dem Nachmittagstee springt der Wind um und ihr dürft euch beim Heimfahren den ganzen Weg lang wieder ebenso tüchtig ins Zeug legen. Habt ihr aber vergessen, euch mit einem Segel zu versehen, dann bläst der Wind immer in eurer Richtung, ob ihr auf- oder abwärts fahrt! Aber das ist nun einmal so auf dieser Welt. Das Leben ist eine Prüfung, und der Mensch ist geboren zu arbeiten, daß die Funken stieben. Aber an diesem Abend war augenscheinlich ein Mißgriff geschehen; der Wind blies uns in den Rücken, anstatt ins Gesicht. Wir waren deshalb auch mäuschenstill und hißten geschwind unser Segel auf, ehe Freund Äolus es merkte; dann suchte sich jeder einen bequemen Platz im Boot und nahm eine nachlässig gedankenvolle Haltung an. Da blähte und spannte sich das Segel, daß der Mast und die Spieren krachten und das Boot vor dem Winde dahinflog. Ich steuerte. Es gibt meines Wissens keine den ganzen Körper mehr durchzitternde Erregung als die, die das Segeln in uns hervorbringt. Es grenzt das so nahe ans Fliegen, als der Mensch dem Fliegen bis jetzt überhaupt nahegekommen ist – ausgenommen im Traum! Auf Windesflügeln scheint man getragen zu werden, man weiß nicht wohin. Man ist nicht mehr der träge, schwache Erdenklotz, der, sich am Boden krümmend, dahinkriecht. Nein, man ist ein Teil der Natur. Unser Herz schlägt gegen das ihre. Sie schlingt ihre herrlichen Arme um uns und drückt uns an ihren Busen. Unser Geist ist eins mit dem ihren. Unsere Glieder werden leichter und leichter. Der Sphärengesang klingt an unser Ohr. Die Erde scheint uns in immer weitere Ferne gerückt, zuletzt winzig klein, und die Wolken dicht über unsern Häuptern sind unsre Geschwister, denen wir sehnend die Arme entgegenstrecken. Wir hatten jetzt den Fluß für uns ganz allein; nur in weiter Ferne erblickten wir ein flaches Fischerboot, das ziemlich in der Mitte des Stromes vor Anker lag; drei Fischer saßen darin. Unser Boot tanzte über das Wasser hin, als wir an dem waldigen Ufer vorbeistrichen; keiner von uns sprach ein Wort. Ich saß am Steuer. Als wir näher kamen, sahen wir, daß die drei Fischer alt und ehrwürdig dreinschauten. Sie hatten sich auf drei Stühlen niedergesetzt und schauten aufmerksam auf ihre Angelschnüre. Die Abendröte warf einen mystischen Schein auf die Wasserflut, tauchte das Ufergehölz in feurige Glut und vergoldete die aufgetürmten Wolken. Es war eine Stunde voll tiefen Zaubers, voll süßer Hoffnung und Sehnsucht. Unser kleines Segel hob sich gegen den purpurnen Himmel ab, die Dämmerung umfing uns und hüllte die Welt in Schatten – und hinter uns schlich die Nacht einher. Wir deuchten uns wie die Ritter einer alten Sage, die über einen Geistersee in das unbekannte Land der Dämmerung oder nach dem Lande der Abendröte segeln. Wir fuhren aber nicht ins Land der Dämmerung, nein, wir fuhren – krach! – auf besagtes Boot mit den drei Fischern auf. Wir wußten zuerst nicht, was geschehen war, weil uns das aufgespannte Segel die Aussicht benahm; aber die Art und Weise der Ausdrücke, die jetzt die Abendluft durchzitterten, brachte uns auf die Vermutung, daß wir uns nahe bei menschlichen Wesen befinden müßten, welche erbost und unzufrieden zu sein schienen. Harris zog das Segel ein, und dann sahen wir, was geschehen war. Wir hatten jene drei alten Leute von ihren Sitzen auf den Grund des Bootes niedergeworfen, wo sie jetzt zu einem einzigen Haufen zusammengeballt lagen, während jeder mit großer Mühe sich aus dem Knäuel loszuwickeln und die Fische von sich abzuschütteln bemüht war. Dabei fluchten sie auf uns, nicht mehr in gewöhnlichen, menschlichen Flüchen, sondern in langen, wohlausgedachten Verwünschungen, welche unsere ganze Laufbahn umfaßten, noch bis auf die entfernteste Zukunft sich erstreckten, alle unsere Freunde, Verwandte und Bekannte, alles, was jemals mit uns in Verbindung war oder treten könnte, mit eingeschlossen – um es kurz zu sagen: echte, schwerwiegende Flüche! Harris sagte zu ihnen, sie sollten uns vielmehr dankbar sein, daß wir ihnen etwas Abwechslung in die Langeweile ihres Daseins gebracht hätten; und er fügte hinzu, es habe ihn tief betrübt, daß Männer in ihrem Alter so ihren Leidenschaften die Zügel schießen ließen. Aber es half alles nichts – sie schimpften fort. Da erhob sich Georg und sagte, nunmehr wolle er steuern. Er meinte, von einem Geist wie dem meinigen sei nicht zu erwarten, daß er jemals werde ein Boot ordentlich steuern können; es sei besser, man lasse einen gewöhnlichen Sterblichen das Boot in Obhut nehmen, ehe wir alle mit bester Manier ersäuft würden – und damit ergriff er das Steuer und brachte uns nach Marlow. Dort ließen wir das Boot an der Brücke und gingen zum Übernachten in die »Krone.« * Unter den mir bekannten Städten an der Themse ist Marlow eine der hübschesten. Es ist eine geschäftige, lebhafte kleine Stadt; als Ganzes genommen, ist sie zwar nicht gerade sehr malerisch; aber es sind viele altertümliche Winkel und Erker darin. Eine liebliche Landschaft umgibt auch den Ort. Namentlich ladet ein reizendes Wäldchen zum Spazierengehen ein. Du liebes, altes Wäldchen! Wie duftig lebt mir heute noch die Erinnerung an die schönen, dort verlebten sonnigen Sommertage im Gemüte! Wie scheinen in deinen gründämmerigen Hallen lachende Gesichter spukgleich zu erstehen und zu verschwinden! Deine flüsternden Blätter erzählen uns so manche Sagen und Geschichten aus längst entschwundenen Tagen! Von Marlow an wird es sogar noch schöner. Die große Abtei zu Bisham, deren Steinmauern vormals von den Rufen der Tempelritter widerhallten, wo einst Anna von Cleve und später die Königin Elisabeth Hof hielt, ist reich an romantischen Eigentümlichkeiten. Sie enthält ein mit Gobelins tapeziertes Schlafzimmer, und ein geheimes Gemach ist hoch oben zwischen dicken Mauern verborgen, wo der Geist der Lady Holy, die ihren kleinen Knaben zu Tode quälte, noch heute bei Nacht umgehen und versuchen soll, seine Geisterhände in einem Geisterbecken reinzuwaschen. Hier ruht auch Warwick, der Königsmacher, und kümmert sich nun nicht mehr um solch kleinliche Dinge, wie die Könige und Königreiche dieser Welt. Auch Salisbury, der bei Poitiers so gute Dienste tat. Unter den Buchen von Bisham fuhr Shelley, der damals in Marlow lebte (wo man sein Haus noch heute in der Weststraße sehen kann), in seinem Boote auf und ab und verfaßte seine »Revolution des Islam«. Bei dem Wehr, von Hurley ein wenig weiter oben, habe ich oft gedacht: Hier könnte ich einen ganzen Monat bleiben, ohne daß mir die Zeit reichen würde, all die Schönheit der Landschaft in mich aufzunehmen. Das Dorf ist eines der ältesten am Flusse. Ein wenig weiter hinauf, in einer reizenden Biegung des Stromes, liegen die Trümmer der Medmenham-Abtei. Die berüchtigten Mönche von Medmenham oder die »Höllenfeuergesellschaft«, wie sie gewöhnlich genannt wurden, bildeten eine Brüderschaft, deren Wahlspruch war: »Tu, was dir beliebt«; – und dieser Spruch ist heute noch auf dem zerfallenen Eingangstore zu lesen. Viele Jahre früher, ehe diese verrottete Abtei mit ihrer Verbrüderung von frechen Spöttern begründet wurde, stand auf demselben Platze ein Kloster von ernsthafterer Art, dessen Mönche einen anderen Typus vertraten als jene Epikureer, die fünfhundert Jahre später auf sie folgten. Die Zisterzienser, deren Abtei im dreizehnten Jahrhundert hier stand, trugen keine gewebten Kleider, sondern grobe Röcke und Kapuzen, aus Tierhäuten bereitet; sie aßen weder Fleisch noch Fisch, noch Eier. Sie schliefen auf Stroh und erhoben sich um Mitternacht, um Messe zu lesen. Ihre Tage verbrachten sie mit Arbeit, mit Lesen und Beten, und über ihrem ganzen Leben lag die tödlichste Stille ausgebreitet, denn keiner von ihnen sprach ein Wort. Eine traurige Brüderschaft, die an diesem lieblichen Plätzchen, das Gott so schön erschaffen hatte, ein trauriges Leben führte! Wie seltsam! Die Stimme der ganzen Natur ringsum, der sanfte Gesang des vorbeiflutenden Wassers, das Geflüster des Ufergrases, in dem der Wind spielt, sollte ihnen das alles nicht eine richtigere Lebensansicht beigebracht haben? Da lauschten sie den ganzen Tag in tiefsinnigem Schweigen und warteten auf eine Stimme vom Himmel, und den ganzen Tag lang und in der feierlichen Herrlichkeit der Nacht sprach diese Stimme in tausend und abertausend Tönen zu ihnen und dennoch hörten sie sie nicht. Von Medmenham an ist der Fluß zunächst voll friedlicher Schönheit; von Greenlands an wird er etwas öde und eintönig, bis man über Henley hinaus ist. Am Montag Morgen standen wir in Marlow ziemlich früh auf und wollten vor dem Frühstück noch ein Bad nehmen. Als wir davon zurückkamen, spielte sich unser Montmorency als ein furchtbarer Esel auf. Der einzige Gegenstand, worüber ich und Montmorency verschiedener Ansicht sind, das sind Katzen. Ich mag die Katzen, aber Montmorency mag sie nicht. Wenn ich einer Katze begegne, so bleibe ich stehen und schmeichle ihr: »Miezi, liebe Miezi«. Dann beuge ich mich zu ihr hinab und streichle sie sachte am Hinterkopf. Darauf krümmt die Katze wohlgefällig den Rücken, streckt ihren Schwanz bolzgerade in die Höhe, reibt ihre Nase an meinen Hosen und alles ist eitel Gefälligkeit und Frieden. Aber wenn Montmorency einer Katze begegnet, dann kommt die ganze Straße in Aufregung, und in zehn Sekunden werden da mehr wüste Ausdrücke verschwendet, als ein anderer ehrenwerter Mann sein ganzes Leben lang brauchen würde, wenn er sie ein wenig zu Rat hielte. Ich tadle den Hund nicht; in der Regel begnüge ich mich, ihm eins an die Ohren zu hauen oder Steine nach ihm zu werfen, denn ich denke, es liegt dies nun einmal in seiner Natur. Foxterriers kommen mit mindestens viermal so viel Erbsünden auf die Welt als andere Hunde; und wir Christen brauchen Jahre um Jahre geduldiger Anstrengung, um eine nennenswerte Milderung der Sitten eines Foxterriers hervorzubringen. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages in die Vorhalle des Haymarket Warenlagers trat und da eine Menge Hunde, die auf ihre drinnen in den Läden befindlichen, Einkäufe machenden Herren warteten, herumlungern sah. Da waren ein Bullenbeißer, ein paar Spitzhunde, ein Bernhardiner, einige Jagdhunde und Neufundländer, ein Rattenfänger, ein französischer Pudel mit dichtem Haar rings um den Kopf, aber sonst ganz kahl geschoren, eine Bulldogge, einige winzig kleine Schoßhündchen und ein paar Yorkshirehunde. Da saßen und lagen sie alle friedfertig, gutmütig und in tiefe Gedanken versunken. Eine feierlich friedliche Stille schien in dieser Halle zu herrschen. Ein Zug von Ruhe und Ergebung, eine sanfte Trauer erfüllte den Raum. Nun trat eine reizende junge Dame herein; sie hatte einen sanft dreinschauenden kleinen Foxterrier an der Leine, welchen sie zwischen der Bulldogge und dem Pudel angebunden zurückließ. Das Hündchen legte sich nieder und schaute sich ungefähr eine Minute lang um. Dann richtete es seinen Blick in die Höhe und schien, nach dem Ausdruck seines Gesichts zu urteilen, an seine Mutter zu denken; hierauf gähnte es; dann schaute es wieder auf die andern Hunde, die alle so still, so ernst und würdevoll dalagen. Es schaute die Bulldogge an, die zu seiner Rechten fest schlief. Es schaute den Pudel an, der aufrecht und vornehm zu seiner Linken sah. Und plötzlich, ohne jedwede Kriegserklärung, ohne auch nur im mindesten herausgefordert worden zu sein, biß es den Pudel in eines seiner Vorderbeine, und ein schmerzliches Geheul drang durch die vorher so friedliche Halle. Das Ergebnis dieses ersten Versuchs mußte dem Hündchen sehr befriedigend erschienen sein; denn es beschloß, in der Weise fortzufahren und etwas Leben in die Gesellschaft zu bringen. Es sprang über den Pudel weg und machte einen lebhaften Angriff auf einen Spitzer; dieser erwachte und fing sofort mit dem Pudel Streit an. Dann kam das liebe Hündchen wieder an seinen Platz zurück, packte die Bulldogge am Ohr und versuchte, sie zu vertreiben. Die Bulldogge ihrerseits, ein merkwürdig unparteiisches Vieh, schnappte ohne Unterschied nach allem, was sie erreichen konnte, den Aufseher der Vorhalle mit inbegriffen, was dem lieben, kleinen Hündchen das Feld frei ließ, um eine ununterbrochene Fehde mit einem ebenso streitlustigen Yorkshirehunde zu genießen. Einem Kenner der Hundenatur braucht nicht erst gesagt zu werden, daß mittlerweile alle anwesenden Hunde so grimmig miteinander fochten, als ob sie Haus und Hof zu verteidigen hätten. Die großen Hunde fochten ohne Unterschied miteinander, die kleinen unter sich und füllten die Zeit, die ihnen dazwischen frei blieb, damit aus, die großen in die Beine zu beißen. Die ganze Halle war in einem Höllenaufruhr und der Lärm wahrhaft ohrenzerreißend. In der Straße draußen sammelten sich die Leute an und fragten, ob da Gemeindeversammlung gehalten werde, oder, wenn das nicht, wer denn ermordet worden sei, und warum? Männer kamen mit Stangen und starken Stricken herbei und versuchten, die Hunde auseinander zu bringen, einige liefen fort, um die Polizei zu holen. Während der Aufruhr am wildesten tobte, kam die reizende junge Dame wieder heraus und nahm ihr liebes, kleines Hündchen wieder in die Arme. Es hatte eben den Yorkshirehund auf einen Monat lahm gebissen und schaute jetzt so unschuldig drein wie ein neugeborenes Lämmchen; dann küßte sie es und fragte es, ob man es denn gemordet habe, und was diese großen, wüsten Hunde ihm getan hätten; es schmiegte sich fest an sie und schaute sie an mit einem Blick, der zu sagen schien: »O, wie froh bin ich, daß du endlich gekommen bist, mich aus dieser schändlichen Gesellschaft fortzubringen!« Und die reizende junge Dame meinte, die Leute hier hätten gar kein Recht, solch wilden Bestien wie diesen andern Hunden zu erlauben, sich hier in Gesellschaft von Hunden aus guten Häusern aufzuhalten, und sie hätte nicht übel Lust, deshalb eine Klage anzustrengen. Item, so ist die Natur des Foxterriers, und deshalb tadle ich denn auch Montmorency nicht wegen seiner Neigung, sich mit Katzen zu raufen; aber nachmals wünschte er selbst, daß er an jenem Morgen seiner Neigung nicht gefrönt hätte. Wir waren, wie oben erwähnt, von unserm Bade zurückgekehrt und eine Strecke weit die Hauptstraße hinaufgegangen, als eine Katze aus einem der vor uns liegenden Häuser herauskam und über die Straße wegspazierte. Montmorency stieß ein Freudengeschrei aus – es war der Schrei eines tapfern Kriegers, der seinen Feind sich in die Hand gegeben sieht – so mag Cromwell geschrien haben, als er die Schotten von ihren Bergen herabsteigen sah – und stürzte sich auf seine Beute. Sein Opfer war ein großer, schwarzer Kater. Ich habe in meinem Leben keine größere, keine häßlichere Katze gesehen als diese. Sie hatte schon den halben Schwanz, ein Ohr und ein beträchtliches Stück der Nase eingebüßt. Es war ein großes, kräftig aussehendes Tier, das ruhig und zufrieden dreinschaute. Montmorency jagte mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Meilen in der Stunde hinter dieser armen Katze her, aber dessenungeachtet pressierte es der Katze gar nicht, sie schien die ihrem Leben drohende Gefahr gar nicht erkannt zu haben. Sie schritt ganz ruhig weiter, bis ihr Mörder in spe nur noch einen Meter von ihr entfernt war; dann kehrte sie sich um, setzte sich mitten auf die Straße und schaute Montmorency mit einem freundlichen, fragenden Blick an, der auszudrücken schien: »Ja? Sie wünschen?« Montmorency fehlt es nicht an Mut; aber es war etwas in dem Blick dieses Katers, das auch das Herz des kühnsten Hundes hätte erbeben machen können. Er hielt plötzlich an und schaute sich meinen Kater an. Keines von beiden sprach ein Wort; aber was sie sich mit Blicken sagten, lautete gewiß folgendermaßen: Die Katze: »Womit kann ich aufwarten?« Montmorency: »Mit gar nichts. Ich danke Ihnen.« Die Katze: »O, genieren Sie sich doch nicht, wenn Sie etwas wünschen. Ich bin wirklich gern bereit!« Montmorency (der sich etwas zurückzieht): »O nein! Gewiß nicht! Bemühen Sie sich nicht. Ich – ich fürchte, ich habe mich geirrt. Ich glaubte Sie zu kennen. Ich bedauere, Sie gestört zu haben.« Die Katze: »O, bitte recht sehr; es war mir ein großes Vergnügen! Aber wünschen Sie wirklich gar nichts?« Montmorency (der sich noch immer zurückzieht): »Nein! Durchaus nichts! Ich danke Ihnen! Ich wünsche gar nichts, Sie sind sehr gütig! Guten Morgen!« Die Katze: »So – nun denn guten Morgen auch!« Montmorency kehrte mit sorgfältig eingezogenem Schwanze zu uns zurück und nahm eine bescheidene Stellung im Nachtrab ein. Wenn man seitdem gegen Montmorency das Wort »Katze« gebraucht, so zittert er am ganzen Körper und schaut einen mit einem mitleiderregenden Blick an, als wollte er sagen: »O bitte, sprecht mir doch nicht davon!« Nach dem Frühstück gingen wir auf den Markt, um uns wieder auf drei Tage zu verproviantieren. Georg meinte, wir hätten auch Gemüse einzukaufen; es sei ungesund, sich der Gemüse zu enthalten, wir müßten auch vegetabilische Speisen zu uns nehmen. Er erklärte, das Kochen der Gemüse sei etwas ganz Leichtes, er werde das schon übernehmen; so schafften wir uns denn zehn Pfund Kartoffeln, einen Scheffel Erbsen und einige Kohlköpfe an; ferner kauften wir uns im Hotel eine Beefsteakpastete, ein paar Stachelbeertorten, eine Hammelkeule; Früchte, Backwerk, Brot und Butter, Schinken, Eier und andere Lebensmittel schafften wir uns nach und nach in den verschiedenen Läden der Stadt an. Unsere Abreise von Marlow muß ich als einen unserer größten Erfolge bezeichnen. Sie war würdig und eindrucksvoll, ohne pomphaft zu sein. Wir hatten uns ausbedungen, daß uns alles, was wir eingekauft hatten, durch einen Laufburschen sofort nachgetragen würde; wir wollten keine lahmen Versicherungen hören, wie: »Ganz recht, mein Herr! ich werde es Ihnen sofort zusenden!« oder: »Der Laufbursche wird noch vor Ihnen drunten beim Boot sein!« Damit hätten wir dann, an der Landungsbrücke wartend herumschlendernd, zweimal in die Kaufläden zurückrennen und uns mit den Leuten herumärgern können. Nein, dazu waren wir zu klug. Wir warteten, bis der Korb gepackt war, und nahmen dann den Jungen gleich mit uns. Wir gingen in viele Läden und verfuhren überall nach demselben Grundsatz; die Folge hiervon war, daß, als wir mit unsern Einkäufen zu Ende waren, wir eine ganz ansehnliche Auswahl von Jungen mit Körben, Paketen etc. als Gefolge beieinander hatten. Als wir endlich die Hauptstraße hinunter nach der Landungsbrücke marschierten, da muß unser Zug ein so imponierendes Schauspiel geboten haben, wie die gute Stadt Marlow schon seit vielen Jahren keines gesehen hatte. Die Ordnung des Zuges war folgende: Montmorency, einen Stock im Maule tragend; zwei schäbig aussehende Köter, Freunde Montmorencys; Georg, mit den Überziehern und Teppichen beladen, eine kurze Pfeife im Munde; Harris, der sich bemüht, mit leichter Anmut einherzuwandeln, während er in der einen Hand einen mehr als vollgestopften Gladstonekoffer, in der andern eine Flasche mit Limonadensaft hält; der Gemüsehändler- und der Bäckerbursche mit Körben; der Hausknecht aus dem Hotel, einen großen Korb tragend; der Konditorjunge mit einem Korb; der Bursche des Delikateßhändlers mit einem Korb; ein langhaariger Hund; der Junge des Käsehändlers mit einem Korb; ein Hausknecht mit einem Sack; der Busenfreund des genannten Hausknechts, die Hände in den Taschen, eine kurze Tonpfeife im Munde; der Obsthändlersjunge mit einem Korbe; ich selbst mit drei Hüten und einem Paar Stiefel, bemüht, mir den Anschein zu geben, als ob ich nichts davon wüßte; sechs kleine Buben und vier herrenlose Hunde. Als wir zum Landungsplatze kamen, sagte der dortige Schiffsvermieter: »Verzeihen Sie, mein Herr, die Frage: Hatten Sie eine Dampfbarkasse oder eine Arche Noah gemietet?« Auf unsere Erklärung, daß unser Boot ein zweirudriges Schiff sei, schien er ein wenig erstaunt zu sein. Die Dampfboote machten uns an jenem Morgen wacker zu schaffen! Es war gerade die Woche vor den großen Wettfahrten bei Henley; deshalb sammelte sich viel Volks dort an; einige fuhren allein, andere zogen große Familienbarken im Schlepptau. Ich kann nun einmal die Dampfboote nicht ausstehen, und ich glaube, es geht jedem Ruderer so. Wenn ich ein Dampfboot zu Gesicht bekomme, so steigt jedesmal der fromme Wunsch in mir auf, es an einen einsamen abgelegenen Teil des Flusses zu locken und es dort in den Grund zu bohren! In einem Dampfboot liegt solch eine herausfordernde Dreistigkeit, daß dadurch jeder böse Trieb meines Innern wachgerufen wird; da sehne ich mich denn nach den guten alten Zeiten zurück, da man mit einer Axt, mit Bogen und Pfeil einherschreiten und den Leuten den Standpunkt klar machen durfte. Der Gesichtsausdruck jenes Mannes, der mit den Händen in der Tasche und der Zigarre im Munde gemütlich am Steuer des Fahrzeugs steht, genügt schon, um einen Friedensbruch zu entschuldigen; und das herrische Zeichen mit der Pfeife, daß man ihm aus dem Weg gehen solle, würde, glaube ich, jeden aus Ruderklubisten zusammengesetzten Gerichtshof zu dem Urteil veranlassen: »Durch Notwehr gerechtfertigter Totschlag!« Sie hatten nun bei uns ständig zu pfeifen, daß wir ihnen ausweichen sollten. Wenn ich es sagen darf, ohne ruhmredig zu erscheinen, so haben wir nach meiner Meinung während dieser Woche den Dampfbooten mehr Störung, mehr Aufenthalt und Ärger verursacht als alle die andern Boote miteinander. »Ein Dampfboot kommt!« pflegte einer von uns auszurufen, wenn er den Feind in der Ferne erblickte, und in einem Augenblick war alles bereit, ihn zu empfangen. Ich ergriff das Steuer, während Harris und Georg sich mir zur Seite setzten, alle den Rücken dem Dampfboot zugekehrt; und so trieb unser Boot ruhig in die Strömung hinaus. Daher dampft das Boot und pfeift, was es kann, und dahin fahren wir von der Strömung getrieben. Einige hundert Meter von uns entfernt fangen sie dann wie rasend an zu pfeifen; dann lehnen sie sich über die Brüstung und brüllen uns zu, aber wir hören eben nichts! Harris erzählt eben eine Anekdote von seiner Mutter, und Georg und ich wollen um alle Welt kein Wort davon verlieren. Dann läßt das Boot seine Pfeife noch einen Verzweiflungsschrei ausstoßen, der den Kessel beinahe zum Platzen bringt, und muß umsteuern und sich rückwärts wenden; bei dieser Gelegenheit fährt es auf den Grund auf; dann rennen alle Insassen nach dem Lugaus und schreien gellend zu uns herüber, und die Leute am Ufer schreien ebenfalls; alle anderen Boote halten an und stimmen ebenfalls mit ein, bis meilenweit der ganze Fluß in der wildesten Aufregung ist. Nun bricht Harris mitten im interessantesten Teil seiner Geschichte plötzlich ab, schaut mit leisem Erstaunen auf und sagt zu Georg: »Ich glaube gar, Georg, es ist ein Dampfboot in der Nähe!« Und dieser darauf: »Ach ja! Es war mir doch vorhin, als hätte ich etwas pfeifen hören!« Worauf wir dann ebenfalls in Aufregung geraten und nicht wissen, wie wir mit unserm Boot ausweichen sollen. Die Leute im Dampfboot drängen sich nun auf einen Haufen zusammen und geben uns Anweisungen. »So fassen Sie doch das Steuer mit der Rechten, Sie Dummkopf! – Nein, zurück mit der Linken! – Nein! Nicht Sie! Der andere Herr! Lassen Sie doch das Steuer fahren! Können Sie nicht das Steuer fahren lassen? So, jetzt ziehen Sie an beiden Seiten! Nicht in der Richtung! O, Sie!« Dann lassen sie ein kleines Boot von ihrem Schiffe nieder und kommen uns zu Hilfe, und nach einer Stunde mühevoller Arbeit schaffen sie uns aus dem Wege, so daß sie weiterfahren können, und wir bedanken uns recht schön und ersuchen sie, uns ein klein wenig ins Schlepptau zu nehmen. Aber dazu sind sie nicht zu bewegen. Ein anderes gutes Mittel, die aristokratischen Dampfboote aus der Haut zu ärgern, entdeckten wir darin, daß wir vorgaben, sie für eine Gesellschaft Ladenschwengel und dergleichen zu halten, und sie fragten, ob sie der von Herrn Cubit zusammengetrommelte Ausflüglertrupp seien, oder zu den sogenannten »Tempelherren von Bermondsey« gehörten, und ob sie uns nicht eine Pfanne leihen könnten. Ältliche Damen, die mit dem Fahren auf dem Flusse nicht vertraut sind, werden beim Begegnen von Dampfbooten immer entsetzlich aufgeregt. Ich erinnere mich, einmal von Staines nach Windsor gefahren zu sein; es ist dies eine Strecke, die an diesen Ungeheuern der Mechanik besonders reich ist; ich hatte drei Damen, auf welche oben erwähnte Bezeichnung paßte, bei mir. Es war recht unterhaltend. Wenn sie von weitem ein Dampfboot erblickten, so bestanden sie darauf, zu landen und sich am Ufer niederzusetzen, bis das Boot wieder außer Sicht war. – Sie sagten, es tue ihnen sehr leid, aber sie seien es ihren Familien schuldig, sich nicht tollkühn in Gefahr zu begeben. Bei der Hambledon-Schleuse war unser Trinkwasservorrat zu Ende; deshalb nahmen wir unsern Krug und gingen nach dem Hause des Schleusenwärters, um ihn um etwas Wasser zu bitten. Georg war unser Sprecher. Er zeigte sein gewinnendstes Lächeln und sagte: »O, bitte, könnten Sie uns vielleicht etwas Wasser überlassen?« »Gewiß!« erwiderte der alte Mann, »nehmen Sie sich, so viel Sie mögen, und lassen Sie den Rest zurück!« »O, ich danke Ihnen recht sehr,« murmelte Georg. »Wo haben Sie Ihr Wasser?« »O, es ist immer am nämlichen Ort, alter Junge,« war die dumme Antwort, »gerade hinter Ihnen.« »Aber ich sehe keines,« sagte Georg, indem er sich umwandte. »Aber bei Gott, wo haben Sie denn Ihre Augen?« war des Mannes Erklärung, indem er Georg herumdrehte und den Fluß hinauf- und hinabwies, »da ist doch genug Wasser zu sehen, sollt' ich meinen!« »O,« sagte Georg, dem nun endlich das Verständnis aufging, »wir können doch den Fluß nicht trinken!« »Nun, natürlich nicht, aber etwas davon,« antwortete der alte Bursche. »Seit fünfzehn Jahren habe ich nichts anderes getrunken!« Georg erklärte ihm, daß sein Aussehen durchaus keine glänzende Reklame für die gute Marke sei, er würde immerhin Brunnenwasser vorziehen. Wir bekamen welches in einem weiter oben gelegenen Häuschen. Ich glaube zwar, daß es auch nur Flußwasser war, aber wir wußten es nicht; daher fanden wir es ganz gut. Was das Auge nicht sieht, das greift den Magen nicht an. Wir versuchten es noch ein andermal mit dem Flußwasser, aber der Erfolg war kein glänzender. Wir fuhren den Strom hinab und hatten uns nahe bei Windsor in ein Hinterwasser begeben, um den Tee zu bereiten. Unser Wasserkrug war leer; der Fall lag daher so, daß wir entweder ohne Tee zu Bett gehen oder Flußwasser dazu nehmen mußten. Harris war für das letztere. Er meinte, das Wasser würde schon recht werden, wenn wir es kochten. Er sagte, die immer im Wasser enthaltenen Giftkeime würden durch das Sieden getötet. So füllten wir denn unsern Teekessel mit Themsewasser, kochten es und paßten scharf auf, ob es auch wirklich koche. Unser Tee war fertig, und wir hatten uns eben ganz behaglich niedergesetzt, um ihn zu trinken, als Georg, die Tasse schon beinahe an den Lippen, plötzlich innehielt und ausrief: »Ho! Was ist denn das?« »Was ist – was?« riefen Harris und ich in einem Atem. »Nun, das da!« sagte Georg, indem er nach Westen schaute. Harris und ich folgten seinem Blicke und sahen in der schwachen Strömung einen Hund langsam dahertreiben. Es war der ruhigste, friedfertigste Hund, den ich jemals gesehen habe. Nie habe ich einen Hund gesehen, der zufriedener und gelassener aussah. Er schwamm träumerisch auf dem Rücken daher und streckte alle Viere gerade in die Höhe. Es war, wie man zu sagen pflegt, ein wohlgenährter, wohlgebauter Hund. Heran schwamm er, ruhig, würdig, still, bis er in die Nähe unseres Bootes kam; da verlangsamte er seine Fahrt, blieb gemütlich zwischen dem Schilf hängen und begehrte für diesen Abend keine weitere Platzveränderung. Georg sagte, er wolle heute keinen Tee mehr, und leerte seine Tasse in den Fluß. Harris war auch nicht mehr durstig und folgte seinem Beispiel. Ich hatte meine Tasse schon zur Hälfte leer getrunken, aber ich wünschte, ich hätte es nicht getan! Ich fragte Georg, ob ich nun wohl den Typhus bekommen würde. Er meinte: »O nein!« Er dachte, für diesmal würde ich wohl noch davonkommen; auf jeden Fall würde ich in ungefähr vierzehn Tagen wissen, ob ich ihn hätte oder nicht. In diesem Hinterwasser fuhren wir bis Wargrave hinauf. Es ist dies ein kurzer Kanal, der vom rechten Ufer ungefähr eine halbe Meile oberhalb der Marsh-Schleuse beginnt. Es ist wohl der Mühe wert, diese Strecke zu befahren; denn sie ist gar hübsch und schattig und schneidet überdies noch eine halbe Meile Wegs ab. Natürlich ist die Einfahrt mit Ketten und Pfählen verrammelt; auch sind Tafeln angebracht, die jeden, der da zu rudern wagt, mit allen nur möglichen Folterqualen, Einkerkerung und Tod bedrohen! Ich wundere mich nur, daß diese Strandräuber nicht auch die Luft auf dem Fluß für sich in Anspruch nehmen und jeden mit mindestens vierzig Schilling Strafe bedrohen, der es wagt, sie zu atmen. Doch lassen sich ja die Pfähle und Ketten mit etwas Geschick leicht umgehen, und was die Verbottafeln anbelangt, so kann man, wenn es einem auf fünf Minuten Zeit gerade nicht ankommt und niemand um den Weg ist, einige davon herunterreißen und ins Wasser werfen. Ungefähr auf dem halben Wege hielten wir an, um unser Gabelfrühstück einzunehmen. Bei diesem Frühstück war es, daß Georg und ich plötzlich in furchtbaren Schrecken versetzt wurden. Auch Harris wurde in Schrecken versetzt; aber ich glaube nicht, daß der seinige auch nur halb so schlimm war als der, welchen Georg und ich bei diesem Anlaß empfanden. Das ging so zu: Wir saßen auf einer Wiese, ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt, und hatten uns eben behaglich zum Essen niedergelassen, Harris hatte die Beefsteakpastete zwischen den Knien und wollte sie zerteilen. Georg und ich hielten unsre Teller in Bereitschaft. »Habt ihr vielleicht einen Löffel zur Hand?« fragte Harris; »ich brauche einen Löffel, um die Sauce herauszuschöpfen.« Der Korb war dicht hinter uns; da wandten wir beide, Georg und ich, uns um, um einen Löffel herauszuholen. Darüber waren keine fünf Sekunden vergangen. Als wir uns wieder umwandten, waren Harris und die Pastete verschwunden. Es war ein weites, offenes Feld. Auf hundert Meter in der Runde war weder ein Baum noch eine Hecke zu sehen. In den Fluß konnte er auch nicht gefallen sein, weil wir dem Wasser näher waren als er, und er über uns hätte hinwegklettern müssen. Georg und ich schauten uns überall um. Dann sahen wir einander an. »Hat ihn denn der Himmel zu sich genommen?« fragte ich. »Aber die Pastete würde er doch schwerlich mitgenommen haben,« meinte Georg. Dieser Einwurf erschien uns von einigem Gewicht; wir kamen also von dem Gedanken der Himmelfahrt wieder ab. »Ich glaube,« sagte Georg, der wieder zum Gemeinverständlichen und Natürlichen zurückkehrte, »das Wahrscheinlichste ist, daß ein Erdbeben stattgefunden hat.« Und dann setzte er mit einer leisen Trauer im Tone hinzu: »Ich wollte, er hätte sich nicht mit dieser Pastete beschäftigt!« Und mit einem Seufzer wandten wir uns wieder nach der Stelle zurück, wo wir Harris und die Pastete zum letztenmal auf Erden gesehen hatten. Da! das Blut erstarrte uns in den Adern, und die Haare standen uns zu Berg – sahen wir Harris' Kopf, nichts als seinen Kopf aus dem hohen Grase vorstehen, das Gesicht stark gerötet und große Entrüstung ausdrückend. Georg faßte sich zuerst wieder. »Sprich! um des Himmels willen!« rief er. »Und sage uns, ob du noch lebst oder schon tot bist. Und sag', wo ist denn dein übriger Mensch?« »O, sei doch kein so brettdummer Esel,« antwortete Harris' Kopf, »ich glaube, ihr habt es absichtlich getan!« »Was getan?« fragten Georg und ich zu gleicher Zeit. »Nun, mich daher sitzen heißen – ein verdammt niederträchtiger Streich! Da, faßt einmal die Pastete!« Und, wie es uns schien, mitten aus der Erde kam die Pastete heraus, ziemlich mit andern Dingen vermischt und beschädigt, und hinter ihr drein kabbelte Harris, beschmutzt und durchnäßt, heraus. Er hatte sich ahnungslos hart an den Rand eines kleinen Grabens gesetzt, der durch hohes Gras verborgen war und als er sich etwas zurücklehnte, war er hintenüber gepurzelt und mit ihm die Pastete und alles, was er in den Händen hatte. Er sagte, in seinem ganzen Leben sei er niemals so überrascht gewesen, als da er plötzlich den Boden unter sich weichen gefühlt habe, ohne sich auch nur im entfernt geringsten eine Vorstellung von dem, was geschehen war, machen zu können. Er habe gemeint, der Weltuntergang sei da. Harris glaubt noch bis auf den heutigen Tag, Georg und ich hätten alles zuvor geplant. So folgt ungerechter Verdacht auch dem Allerunschuldigsten! Denn wie sagt der Dichter? »Wer mag der Verleumdung entgehen?« Ja, wer? * Nach dem Gabelfrühstück bekamen wir eine Brise, die uns ganz nett über Wargrave und Shiplake hinaus beförderte. In der Kirche zu Wargrave befindet sich der Grabstein einer gewissen Frau Sarah Hill, die ein Legat von 1 Lstrl. (zwanzig Mark) Jahresrente ausgesetzt hat, das an zwei Knaben und zwei Mädchen verteilt werden soll, welche »niemals ihren Eltern ungehorsam waren, niemals geflucht, niemals gelogen, noch gestohlen oder Fenster eingeworfen haben«. Nun bitte ich euch, für fünf Schilling jährlich soll man auf all das verzichten!? Das ist doch wahrhaftig nicht der Mühe wert! In dem Städtchen erzählt man sich noch heute, daß vor vielen Jahren einmal ein solcher Knabe gelebt habe, der sich niemals eines der oben angeführten Vergehen habe zuschulden kommen lassen, oder – was ebensogut war – von dem wenigstens nichts Derartiges bekannt geworden sei, der somit die Ruhmeskrone erlangt habe. Er wurde nachher drei Wochen lang unter Glas und Rahmen in der Stadthalle ausgestellt. Was seither aus dem Gelde geworden ist, kann niemand bestimmt angeben. Einige sagen, man habe es immer dem nächsten Wachsfigurenkabinett ausgefolgt. Bescheidene Landleute und vornehme Städter haben wir bei Henley hinter uns gelassen, und das trübe, schmutzige Reading ist noch nicht erreicht. Dieser Teil des Flusses ist so recht dazu geeignet, von vergangenen Tagen zu träumen, von entschwundenen Gestalten, von all den Plänen, die sich hätten verwirklichen lassen können, und die sich doch nicht verwirklicht haben, hol' sie der Teufel! In Sonning stiegen wir aus und machten einen Spaziergang durch das Dorf. Es ist dies wirklich der feenhafteste Ort am ganzen Flusse. Er gleicht mehr einem prähistorischen Pfahldorf als einem aus Stein und Mörtel erbauten Dorfe. Jedes Haus wird von Rosen förmlich erstickt, und eben jetzt zu Anfang Juni brachen sie mit all ihrem zauberischen Dufte auf. Ungefähr eine Stunde lang hielten wir uns in und um Sonning auf, und da es dann zu spät war, um noch nach Reading zu gelangen, beschlossen wir, nach einer der Shiplake-Inseln zurückzufahren und dort zu übernachten. Es war noch ziemlich früh, als wir dort anlangten, weshalb Georg meinte, da wir jetzt genügend Zeit dazu hätten, so könnten wir die Gelegenheit benutzen, uns ein ordentliches, vollständiges Abendessen zu bereiten. Er sagte, er wolle uns einmal zeigen, was man auf einer Flußfahrt in der höheren Kochkunst zu leisten imstande sei, und machte den Vorschlag, wir sollten mit den Gemüsen, den Überresten von kaltem Roastbeef und den verschiedenen sonstigen Überbleibseln ein »Irish Stew« anfertigen. Die Idee entzückte uns. Georg las etwas Holz zusammen und zündete ein Feuer an; Harris und ich machten uns daran, die Kartoffeln zu schälen. Ich hätte niemals geglaubt, daß das Kartoffelschälen ein so schmieriges Geschäft sei. Die Sache erwies sich in der Folge als eine der schwersten Unternehmungen, in welche ich jemals verwickelt war. Je mehr wir schälten, desto mehr Haut schien an den Kartoffeln hängen zu bleiben; und als wir endlich alle Schalen und alle Augen weg hatten, da war von der Kartoffel nichts mehr übrig, d. h. so gut wie nichts mehr. Georg kam herzu und schaute die Sache an. Es war ein ungefähr haselnußgroßes Stück übrig. »Oho!« sagte er, »das geht so nicht. Ihr verderbt ja alles! Ihr müßt sie schaben!« So schabten wir sie nun, aber das war ein noch weit schwierigeres Unternehmen als das Schälen. Sie haben eine so eigentümliche Form, die Kartoffeln, lauter Berge und Täler und Auswüchse. Wir arbeiteten ohne aufzuschauen volle fünfundzwanzig Minuten und brachten vier Kartoffeln fertig. Dann streikten wir und erklärten Georg, den Rest des Abends würden wir brauchen, um uns selbst zu schaben. Es ist doch nichts so geeignet, aus einem anständigen Menschen einen schmutzigen Kerl zu machen, als das Kartoffelschälen. Es war kaum glaublich, daß die Kartoffelabfälle, in welchen Harris und ich, halb erstickt, standen, von nur vier Kartoffeln herrühren sollten. Ein Beweis dafür, was nicht alles mit Sparsamkeit erreicht werden kann. Georg sagte, es sei lächerlich, nur vier Kartoffeln zu einem »Irish Stew« nehmen zu wollen; so wuschen wir noch ein halbes Dutzend und fügten sie ungeschält hinzu. Weitere Zutaten waren ein Kohlkopf und eine Schüssel voll Erbsen. Georg rührte das alles untereinander, und dann meinte er, die Backschüssel sei noch lange nicht voll. So kehrten wir denn die Körbe um, lasen alle Überbleibsel und alles, was dazu zu passen schien, aus und steckten es auch noch hinein. Es war noch eine halbe Schweinspastete und etwas gekochter Speck da; das wurde auch sofort hineingemengt. Dann fand Georg noch eine zur Hälfte gefüllte Büchse mit Lachskonserve und leerte sie noch dazu. Er sagte, das sei eben der Vorteil bei einem Irish Stew, daß man da all die alten Sachen los werde. Ich fischte noch ein paar zerbrochene Eier auf, die wir auch noch beifügten. Georg meinte, das werde die Tunke gehörig dick machen. Was wir sonst noch alles hineinmengten, weiß ich heute nicht mehr; nur das weiß ich, daß nichts weggeworfen wurde; auch erinnere ich mich, daß Montmorency, der den ganzen Vorgang aufmerksamen Auges verfolgt hatte, gegen Ende desselben mit ernsthafter, gedankenvoller Miene davontrollte – und ein paar Minuten später mit einer toten Wasserratte in der Schnauze wiederkehrte, welche er augenscheinlich als seinen Beitrag zur Mahlzeit darbringen wollte; – ob es in einem Anflug von Sarkasmus geschah, oder ob er wirklich von dem aufrichtigen Wunsch zu helfen beseelt war, vermag ich nicht zu sagen. Wir berieten darüber, ob die Ratte auch noch in das Gericht aufgenommen werden sollte oder nicht. Harris meinte, es könnte nicht schaden, wenn sie unter die anderen Zutaten gemischt würde, man müsse für jeden Beitrag zur Mahlzeit dankbar sein; aber Georg wehrte sich dagegen. Er sagte, in seinem Rezept zur Bereitung von Irish Stew stehe nichts von Wasserratten; er wolle lieber den Sicheren spielen und keine unnützen Versuche machen. Harris meinte: »Wenn man niemals etwas Neues versucht, wie soll man da wissen, was daraus werden kann? Solche Geschöpfe wie du, Georg, hemmen den Fortschritt der Menschheit. Denkt doch nur jenes großen Mannes, der zuerst deutsche Würste erfand!« Auf unser »Irish Stew« aber können wir stolz sein. Ich glaube nicht, daß mir jemals eine Mahlzeit besser gemundet hat! Es war etwas so Frisches, Pikantes daran! Der Gaumen wird zuletzt der gewöhnlichen, landläufigen Gerichte überdrüssig. Hier hatten wir ein Gericht mit einer ganz neuen, nichts auf der Welt vergleichbaren Würze vor uns. Und obendrein war es auch recht nahrhaft; war doch, wie Georg sich ausdrückte, »etwas Ordentliches« darin. Die Erbsen und die Kartoffeln hätten allerdings etwas weicher sein dürfen, aber wir hatten ja alle gute Zähne, und so machte das nicht viel aus; und was die Tunke anbelangte – ah, die war »glanzreich, duftig, stillverklärt wie erste Liebe!«, für einen schwachen Magen vielleicht etwas allzu würzig, aber nahrhaft! Wir beschlossen unser Mahl mit Tee und Kirschtorte. Montmorency war inzwischen mit dem Teekessel in Streit geraten und dabei schlecht weggekommen. Während des ganzen Ausflugs hatte er in bezug auf den Teekessel große Neugierde an den Tag gelegt. Wenn man ihn (nicht den Hund, sondern den Kessel) aufs Feuer brachte, so pflegte Montmorency sich dazuzusetzen und ihn mit mißtrauischen Blicken zu beobachten und dann und wann durch ein kurzes Gebell aus seiner Ruhe aufzustören. Als jener nun zu summen und zu dampfen anfing, betrachtete er dies als eine Herausforderung zum Kampf, die er sofort annehmen wollte. Aber in diesem Augenblick pflegte regelmäßig jemand herbeizuspringen und ihm seine Beute vor der Nase wegzuschnappen. Heute war er fest entschlossen, schneller bei der Hand zu sein. Beim ersten Laut, den der Kessel von sich gab, sprang er auf und stellte sich kampfbereit und laut bellend ihm gegenüber. Es war nur ein kleiner Kessel; aber er war voll Mut und Feuer; er dampfte und spie nach ihm. »Ah! Wart', ich will dir« – grollte Montmorency, die Zähne fletschend. »Ich will dich Mores lehren! Meinst du, ein hart arbeitender, ehrenwerter Hund lasse sich so von dir behandeln? Du elender, langnasiger, schmutziger Schuft! Nur mal ran!« Und er stürzte wie ein Drache auf den armen kleinen Kessel los und faßte ihn bei der Schnauze. Da ertönte plötzlich durch die Abendstille ein langgezogenes, unser Blut erstarrenmachendes Geheul, und Montmorency verließ das Boot und rannte mit einer Eile von fünfunddreißig Meilen die Stunde dreimal um die Insel, indem er dann und wann anhielt, um seine Nase in eine kühlende Pfütze zu stecken. Von der Zeit an betrachtete Montmorency den Teekessel mit einem Gemisch von Ehrfurcht, Mißtrauen und Haß. So oft er ihn sah, knurrte er und zog sich mit eingezogenem Schwanz rasch zurück. Aber sobald der Kessel ans Feuer gesetzt wurde, pflegte er geschwind aus dem Boot zu klettern und am Ufer sitzen zu bleiben, bis das ganze Teegeschäft zu Ende war. Nach dem Abendessen zog Georg sein Banjo aus dem Futteral und wollte spielen; aber Harris widersetzte sich; er sagte, er habe Kopfschmerz und könne die Musik nicht ertragen. Georg meinte, die Musik würde ihm im Gegenteil gut tun; denn oft besänftige sie die aufgeregten Nerven und vertreibe die Kopfschmerzen; und er klimperte ein paar Noten, nur um Harris zu zeigen, wie es klinge. Harris meinte, er wolle lieber seine Kopfschmerzen haben. Georg hatte bis auf den heutigen Tag nicht gelernt, das Banjo zu spielen. Auf allen Seiten ist er nichts als Schwierigkeiten begegnet. Er versuchte während unserer Flußfahrt, an zwei oder drei Abenden, sich ein wenig zu üben, aber es wollte nie recht gelingen. Harris' Ausdrucksweise genügte vollständig, um den stärksten Charakter seinen Entschlüssen untreu werden zu lassen; dazu kam noch, daß Montmorency während des Vortrags jederzeit ein furchtbares Geheul anhob. Das hieß doch wahrhaftig dem Manne keine Ermutigung zur Selbstentfaltung geben. »Was braucht das Vieh so zu heulen, wenn ich spiele!« konnte Georg entrüstet ausrufen, während er mit einem Stiefel nach ihm zielte. »Was brauchst du so zu spielen, wenn der Hund heult?« kam von Harris die Gegenfrage, indem er den daherfliegenden Stiefel auffing. »Laß du mir den Hund in Ruhe. Er kann nichts dafür, er muß heulen. Er ist musikalisch veranlagt, und dein Spiel macht ihn heulen!« So beschloß denn Georg, die Banjostudien aufzugeben, bis er wieder nach Hause käme. Aber auch da wurde ihm nicht viel Gelegenheit dazu. Frau Poppets kam dann wohl herauf und erklärte, es tue ihr zwar sehr leid – denn sie selbst liebe die Musik – aber die Dame im oberen Stock sei großer Schonung bedürftig, und der Doktor befürchte, es könne dem Kinde schaden. Dann versuchte Georg, das Banjo spät abends mitzunehmen und auf dem freien Platze nebenan sein Heil zu probieren. Aber die Anwohner beklagten sich bei der Polizei, und eines Abends wurde er von einer ihm auflauernden Wache abgefaßt. Der Tatbestand zeugte klar gegen ihn; er mußte geloben, sechs Monate lang Frieden zu halten. Nach diesem Erlebnis verging ihm der Mut, das Geschäft weiter zu betreiben; er machte zwar nach Ablauf dieser sechs Monate noch einige schwache Versuche; aber er begegnete immer derselben kühlen Aufnahme, demselben Mangel an Verständnis und Mitgefühl von seiten der Welt. Nach einiger Zeit verzweifelte er gänzlich an jedem Erfolge und setzte das Instrument mit bedeutendem Schaden zum Verkauf aus – »da kein Gebrauch mehr von selbigem gemacht werde,« – und lernte dann anstatt Banjo spielen – Kartenkunststücke! Ja, ja, es muß schon etwas entmutigend sein, das Erlernen eines Instruments! Man sollte denken, die Gesellschaft sollte in ihrem eigenen Interesse einen Menschen, der ein Instrument spielen lernen will, in jeder Weise unterstützen – aber sie tut's nicht! * Ich kannte einen jungen Mann, der das Dudelsackblasen lernen wollte; es ist wahrhaft erstaunlich, welchem Widerstande er dabei auf allen Seiten begegnete. Nicht einmal bei seiner eigenen Familie fand er die nötige tatkräftige Unterstützung. Sein Vater war von Anfang an taub gegen diese Musik und sprach über den Gegenstand in ganz roher, gefühlloser Weise. Mein Freund wollte die frühen Morgenstunden zu seinen Übungen benutzen; aber er mußte den Plan aufgeben seiner Schwester wegen. Diese hatte einen etwas religiösen Hang und sagte, es sei doch furchtbar gottlos, den Tag so zu beginnen. So blieb er denn bei Nacht auf und fing an zu spielen, nachdem die Familie zu Bett gegangen; aber das ging auch nicht; denn das Haus kam dadurch in so üblen Ruf. Späte Nachhausegänger hielten davor an, um zu horchen, und sprengten den andern Morgen das Gerücht durch die Stadt, in der letzten Nacht müsse in Herrn Jeffersons Hause ein schrecklicher Mord begangen worden sein; denn man habe das Geschrei des Opfers und die gräßlichen Flüche und Verwünschungen des Mörders und dazwischen die Bitten um Schonung und das letzte Röcheln des Sterbenden von außen gehört! So ließ man ihn denn während des Tages in der abgelegenen Waschküche seine Übungen machen, nachdem alle Fenster und Türen verschlossen worden waren; aber die Passagen, die ihm besser gelangen, konnten gewöhnlich trotz dieser Vorsichtsmaßregeln im Wohnzimmer vernommen werden und brachten seine Mutter bis zu Tränen. Sie sagte, es erinnere sie an ihren armen seligen Vater (der seinerzeit beim Baden an der Küste von Neu-Guinea von einem Haifisch verschlungen worden war); woher ihr diese Ideenverbindung kam, konnte sie zwar nicht angeben. Dann zimmerte man ihm ein kleines Gehäuse in der Ecke des Gartens zurecht, ungefähr zehn Minuten vom Hause entfernt, und hieß ihn seine Maschine dorthin schaffen und dort bearbeiten, wenn er das Bedürfnis danach empfinde; aber manchmal pflegte ein Besuch ins Haus zu kommen, der nichts von der Sache wußte und den man darauf vorzubereiten versäumt hatte; ging der dann im Garten spazieren und kam nun auf einmal in Hörweite dieses Dudelsacks, dann mußte es schon ein besonders starker Mann sein, wenn er nur einen Nervenzufall bekam; aber Personen von nicht mehr als gewöhnlichem Verstand konnten denselben bei dieser Gelegenheit völlig einbüßen. Es ist – ich muß es gestehen – etwas Trauriges um die ersten Versuche eines Dudelsackbläsers. Ich habe das selbst empfunden, wenn ich meines jungen Freundes Versuchen zuhörte. Es schien mir ein äußerst schwer zu spielendes Instrument. Man muß, ehe man zu blasen anfängt, erst Atem für das ganze Lied holen; so kam es mir wenigstens vor, wenn ich meinem Freunde Jefferson zuschaute. – Er konnte prachtvoll mit einem wilden, vollen, einem Schlachtruf ähnlichen Ton einsetzen, der einen völlig fortriß; aber im Verlauf des Vortrages ward ein immer schwächeres Piano daraus, und mitten im letzten Satz brach er plötzlich mit einem schrillen Pfeifen ab. Wer den Dudelsack blasen will, der muß eine robuste Gesundheit haben. – Der junge Jefferson brachte es überhaupt nur zu einer Melodie auf dem Dudelsack; gleichwohl hörte ich niemals eine Klage darüber, daß sich sein Repertoire nicht weiter erstrecke. Das einzige Lied, das er blasen konnte, war: »Die Campbells kommen – Hurra! Hurra!« Wenigstens behauptete der junge Jefferson, daß es dieses Lied sei, das er blase; aber sein Vater behauptete stets, es sei: »Die blauen Glocken von Schottland«. Niemand war ganz sicher, was es eigentlich wäre; aber alle stimmten darin überein, daß es schottisch klinge. Den Fremden erlaubte man, dreimal zu raten, und gewöhnlich riet jeder jedesmal etwas anderes. Nach dem Abendessen war Harris ziemlich schlecht aufgelegt. Ich vermute, daß ihm das Irish Stew zu schaffen machte; er ist eben die feinere Küche nicht gewöhnt; daher ließen wir – Georg und ich – ihn an Bord und stiegen aus, um einen Wandel nach Henley zu machen. Harris meinte, er wolle sich ein Glas Whisky und eine Pfeife gönnen und unser Boot für die Nacht zurüsten. Wir sollten ihm bei unserer Zurückkunft zurufen, dann wolle er von der Insel herüberrudern und uns abholen. »Aber daß du uns ja nicht einschläfst, alter Bursche,« sagten wir ihm noch zum Abschied. »Das hat keine Gefahr,« erwiderte Harris, »solange ich das Irish Stew im Leibe habe,« und schiffte brummend zurück. Henley machte sich zur Regatta[Fußnote: In Henley finden alljährlich die großen Ruderregatten statt, ein Ereignis, das in ganz England schon wochenlang zuvor das Tagesgespräch bildet.] bereit und war voll Leben. Unter den angekommenen Gästen trafen wir eine Menge alter Bekannter, in deren angenehmer Gesellschaft uns die Zeit schnell verging, so daß es nahezu elf Uhr war, als wir unsern vier Meilen weiten Rückweg von der Stadt zu unserem »Heim«, wie wir jetzt unser kleines Fahrzeug zu nennen pflegten, antraten. Es war eine ungemütliche Nacht; ein feiner Regen fiel hernieder; und als wir so durch die dunkeln, stillen Wiesen dahintrabten, uns leise miteinander unterhielten und ungewiß waren, ob wir uns wohl auf dem richtigen Wege befänden oder nicht, dachten wir unseres behaglichen Bootes mit seinem durch die festgezogene Leinewand durchschimmernden Lampenlicht. Wir dachten an Harris und Montmorency und an den Whisky und wünschten, wir wären an Bord. Wir beschworen vor unseres Geistes Auge das Bild unseres lieben, trauten Bootes herauf, wie es, ein riesiger Glühwurm, aus dem trüben Wasser unter den überhängenden Bäumen hervorschimmert. Drinnen behagliche Wärme und freundliche Helle, und wir selbst darin, ein wenig hungrig und müde. Wir bildeten uns ein, wir säßen beim Abendessen, ließen uns den kalten Braten trefflich munden und reichten uns gegenseitig riesige Stücke Brot; wir hörten das freundliche Klirren unsrer Messer und Gabeln, unsre lachenden Stimmen, die in der Stille der Nacht hinausdrangen, und beeilten uns, die Vision zur Wahrheit zu machen. Endlich erreichten wir den Leinpfad, und das machte uns ganz glücklich – vorher hatten wir in der Tat nicht mehr gewußt, ob wir uns dem Flusse näherten oder uns von ihm entfernten; wenn man müde ist und gern zu Bett gehen möchte, regt einen eine derartige Ungewißheit etwas auf. Wir kamen an Shiplake vorbei, als die Turmuhr eben dreiviertel auf zwölf schlug. Da sagte Georg nachdenklich: »Erinnerst du dich wohl, an welcher der Inseln wir vor Anker gingen?« »Nein,« erwiderte ich, indem ich nun auch nachdenklich wurde, »ich erinnere mich nicht. Wie viele Inseln sind es denn?« »Bloß vier,« antwortete Georg, »wir finden uns sofort zurecht, wenn er noch wach ist!« »Aber wenn nicht, was dann?« fragte ich; doch unterließen wir, uns auf die Frage Antwort zu geben. Wir riefen aus Leibeskräften, als wir zu der ersten Insel kamen – aber da war keine Stimme noch Antwort; so gingen wir in die Nähe der zweiten – aber mit demselben Erfolg. »O, jetzt erinnere ich mich,« sagte Georg, »es war die dritte.« Hoffnungsvoll rannten wir nach der dritten und ließen unser Hallo ertönen. Keine Antwort! Jetzt wurde der Fall wirklich ernst! – Es war nun Mitternacht vorüber. Die Hotels in Shiplake und Henley waren mittlerweile sicherlich überfüllt, und wir konnten doch nicht wohl mitten in der Nacht von Haus zu Haus gehen und um ein Zimmer anfragen. Georg schlug als Auskunftsmittel vor, wir sollten zurück nach Henley gehen, dort einen Polizeidiener angreifen, und auf diese Weise freies Quartier auf der Polizeistation erlangen. Aber dann war die Frage, ob er uns am Ende nicht bloß zurücktreiben und sich weigern würde, uns einzusperren. Wir konnten uns doch nicht die ganze Nacht mit dem Polizisten herumschlagen! Überdies hegten wir kein Verlangen, die Sache auf die Spitze zu treiben und schließlich sechs Monate lang brummen zu müssen. In der Verzweiflung versuchten wir es noch mit dem, was wir für die vierte Insel hielten, aber ohne besseren Erfolg. Der Regen fiel nunmehr reichlicher und schien recht andauernd werden zu wollen. Wir waren naß bis auf die Haut und fühlten uns kalt und elend. Nachgerade waren wir auch im Zweifel, ob es wirklich nur vier Inseln seien, und ob wir uns wohl in deren Nähe befänden, oder ob wir überhaupt nach der Gegend gegangen seien, nach der wir strebten; ob wir uns nicht nach einem ganz anderen Teil des Flusses verirrt hätten, so fremd und seltsam erschien uns alles in der Dunkelheit. Wir begriffen jetzt, was die »Kinder im Walde« ausgestanden haben müssen. Doch als wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten – ja, ich weiß wohl, das ist in Romanen und Novellen immer der Augenblick, in dem dann das rettende Ereignis eintritt – aber ich kann's nicht ändern; als ich dies Buch zu schreiben anfing, gelobte ich mir, in allen Dingen streng bei der Wahrheit zu bleiben, und so soll es sein, und wenn ich dabei auch abgedroschene Phrasen anwenden müßte. Wir hatten wirklich und wahrhaftig schon alle Hoffnung aufgegeben; ich kann mich daher nicht anders fassen. Als wir dann gerade alle Hoffnung aufgegeben hatten, da glaubte ich plötzlich in der Ferne einen eigentümlich schaurigen Lichtschimmer zu gewahren, der zwischen den Bäumen des entgegengesetzten Ufers hervorzubrechen schien. Einen Moment lang dachte ich an Geister; denn es war ein solch schattenhaftes, unheimliches Licht. Aber im nächsten Augenblick durchzuckte mich der Gedanke, daß das unser Boot sein könnte. – Da schickte ich einen solch gellenden Ruf über das Wasser hin, der die Nacht selbst hätte aus ihrer Ruhe erwecken können. Eine Minute lang warteten wir in atemloser Spannung. Dann – o du himmlische Musik in der Dunkelheit – hörten wir das antwortende Gebell Montmorencys. Wir brüllten jetzt zusammen, laut genug, um die Siebenschläfer zu erwecken; ich habe übrigens nie verstehen können, warum es mehr Lärm brauchen sollte, um sieben Schläfer zu erwecken, als für einen einzigen. Da, es schien uns eine Stunde zu währen, in Wahrheit mögen es etwa fünf Minuten gewesen sein, da sahen wir das erleuchtete Boot langsam über die dunkle Wasserflut daherschweben und hörten Harris' verschlafene Stimme fragen, wo wir seien. Es war etwas unerklärlich Seltsames in Harris' Wesen; es war mehr als seine gewöhnliche Schläfrigkeit. Er ruderte das Boot an eine Stelle des Ufers, an welcher es uns ganz unmöglich war einzusteigen – und schlief dann sofort wieder ein. Wir brauchten ein unendliches Gebrüll, um ihn wieder aufzuwecken und ihm etwas Verstand beizubringen; doch zuletzt gelang es uns, und wir kamen sicher an Bord. Wir bemerkten jetzt, daß Harris' Gesicht einen sonderbar traurigen Ausdruck hatte. Er sah aus wie ein Mensch, der Schweres durchgemacht hat. Wir fragten ihn, ob ihm irgend etwas passiert sei. Er antwortete: »Schwäne.« Wir hatten uns, wie es schien, in der Nähe eines Schwanennestes vor Anker gelegt, und bald nach meinem und Georgs Abgang war die Schwanenmutter heimgekehrt und hatte sofort einen Skandal darüber angefangen. Harris hatte sie davongejagt; da war sie gegangen, den Herrn Gemahl herbeizuholen. Mit diesen zwei Schwänen, erzählte Harris weiter, habe er eine wirkliche Schlacht gehabt, aber Mut und Geschicklichkeit hätten am Ende obgesiegt, und er habe sie abgetrieben. Eine halbe Stunde später seien sie dann mit achtzehn weiteren Schwänen zurückgekehrt. Es muß ein furchtbarer Kampf gewesen sein, soviel wir aus Harris' Bericht entnehmen konnten. Die Schwäne hatten versucht, das Boot zu kentern und ihn und Montmorency zu ertränken; und er hatte wie ein Held vier Stunden lang alle Angriffe abgeschlagen und das ganze feindliche Heer unschädlich gemacht, so daß sie schließlich davongeschwommen seien, um zu sterben. »Wieviel Schwäne, sagtest du, waren da?« fragte Georg. »Zweiunddreißig,« gab Harris schläfrig zurück. »Aber gerade vorhin sagtest du doch achtzehn,« sagte Georg. »Nein, so sagte ich nicht,« brummte Harris, »ich sagte zwölf, meinst du denn, ich könne nicht zählen?« Wie es sich in der Tat mit diesen Schwänen verhielt, das konnten wir nie ausfindig machen. Als wir Harris am andern Morgen über die Sache befragten, antwortete er: »Was für Schwäne?« Er glaubte augenscheinlich, es habe Georg und mir geträumt. O, wie köstlich war es nun, nach all unsern nächtlichen Gefahren und Abenteuern sicher und wohlgeborgen im Boot zu sein! Wir aßen noch herzhaft zu Nacht. Georg und ich hätten uns nachher gerne noch einen Grog gemacht, wenn wir die Whiskyflasche hätten finden können, aber wir fanden sie nicht. Wir fragten Harris, wo er sie denn hingesteckt habe, aber er schien nicht zu begreifen, was wir mit dem Worte Whisky bezeichnen wollten, oder wovon wir überhaupt sprachen. Montmorency schaute drein, als ob er etwas davon wüßte, aber er sagte nichts. Ich schlief recht gut in jener Nacht und hätte noch besser geschlafen, wenn Harris nicht gewesen wäre. Ich habe noch eine dunkle Erinnerung, daß ich mindestens zwölfmal von Harris, der die ganze Nacht mit der Laterne in der Hand im Boot hin und her wanderte und seine Kleider suchte, aufgeweckt wurde. Er schien wegen seiner Kleider in Unruhe zu sein. Zweimal störte er Georg und mich auf, um nachzusehen, ob wir nicht auf seinen Beinkleidern lägen. Beim zweitenmal wurde Georg fuchsteufelswild: »Was zum Donner brauchst du jetzt mitten in der Nacht deine Hosen?« fuhr er ihn an, »warum legst du dich denn nicht aufs Ohr und schläfst?« Das nächstemal, als er mich aufweckte, war er auf der Suche nach seinen Socken; das letzte, dessen ich mich noch dunkel erinnere, ist, daß er mich auf die Seite drehte, und ich ihn murmeln hörte, er möchte doch zum Kuckuck wissen, wo sein Regenschirm hingekommen sei. * Ungefähr um elf Uhr bekamen wir Reading in Sicht. Der Fluß ist hier trübe und schmutzig. Um Reading herum hält man sich nicht gern lange auf. Die Stadt selbst ist ein berühmter alter Ort, der schon in den sagenhaften Zeiten des Königs Ethelred bestanden haben soll, als die Dänen mit ihren Kriegsschiffen in Kennet vor Anker lagen und von Reading aus die ganze Grafschaft Wessex verheerten; aber hier kämpften Ethelred und sein Bruder Alfred gegen sie und besiegten sie in gemeinschaftlicher, redlich geteilter Arbeit – Ethelred besorgte das Beten und Alfred das Fechten. In späteren Jahren scheint Reading als ein angenehmer Zufluchtsort betrachtet worden zu sein, wenn einem das Pflaster in London zu heiß geworden war. Namentlich das Parlament ging gern dahin, wenn in Westminster[Fußnote: Das Parlamentsgebäude steht im Stadtteil Westminster.] eine Seuche ausgebrochen war, und im Jahre 1625 zog sich der ganze Gerichtshof dahin, weshalb alle Gerichtssitzungen dort gehalten wurden. Damals muß es noch der Mühe wert gewesen sein, eine kleine Seuche in London zu haben, wenn man dadurch alle Advokaten und das ganze Parlament auf einmal los wurde. Bei der Readingschleuse trafen wir mit einem Dampfboot zusammen, das ein paar Freunden von mir gehörte; sie nahmen uns bis Streatley hinauf ins Schlepptau. Von einem Dampfboot gezogen zu werden, ist ein Göttervergnügen. Es ist mir sogar noch lieber als das Rudern. Die Fahrt würde noch himmlischer gewesen sein, wenn nicht so eine verdammte Rotte von kleinen Booten beständig unserem Schiff in den Weg gekommen wäre, so daß wir, um sie nicht in den Grund zu bohren, unaufhörlich ausweichen oder anhalten mußten. Es ist wirklich höchst ärgerlich, in welch widerwärtiger Weise diese kleinen Ruderboote den Dampfbooten das Leben sauer machen; es sollte sicherlich etwas geschehen, um diesem Unfug Einhalt zu tun. Und sie sind zu alledem noch so verdammt unverschämt. Man kann pfeifen, bis beinahe der Kessel platzt, ehe es ihnen beliebt, aus dem Wege zu gehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, so hätten wir hier und da ein solches Satansboot in den Grund gebohrt, nur um sie ein bißchen Mores zu lehren. Etwas oberhalb Reading wird der Fluß wieder sehr reizend. Meiner Freunde Dampfboot überließ uns nun wieder unserm Schicksal. Da wollte Harris herausgefunden haben, daß jetzt die Reihe zu rudern wieder an mir sei. Das schien mir eine völlig unbegründete Behauptung. Wir waren doch am Morgen dahin übereingekommen, daß ich das Boot etwa drei Meilen über Reading hinaufzubringen habe. Und nun waren wir hier etwa zehn Meilen oberhalb Reading. Was konnte klarer sein, als daß nun wieder an ihnen die Reihe war. Aber ich konnte weder Georg noch Harris dahin bringen, die Sache in ihrem wahren Lichte zu betrachten; um weitere Erörterungen abzuschneiden, ergriff ich daher die Ruder. Kaum hatte ich eine Minute lang gerudert, als Georg etwas Schwarzes im Wasser dahertreiben sah. Wir steuerten darauf los, und Georg lehnte sich über, um es zu erfassen, aber mit einem Schrei und mit geisterbleichem Gesicht fuhr er zurück. Es war die Leiche einer Frau, die vom Wasser getragen wurde; sie hatte ein zartes und ruhiges Antlitz. Schön war das Gesicht nicht; dazu sah es zu früh gealtert, zu schmal und hager aus; aber es war ein sanftes, liebes Gesicht, trotz der deutlichen Spuren von Armut und Sorge; und ein Ausdruck von Ruhe und Frieden lag darauf, wie er mitunter bei Sterbenden wahrgenommen wird, wenn der letzte Schmerz überwunden ist. Zum Glück für uns, denn wir hätten uns nicht gerne vor den Leichenschauer zitieren lassen, ein Zeugnis abzulegen – hatten einige Leute am Ufer den Körper auch gesehen und kamen nun, ihn in gerichtliche Verwahrung zu bringen. Später wurde uns die Geschichte jener Frau erzählt. Es war das alte, alte, traurige Lied. Sie hatte geliebt und war dann getäuscht worden, oder hatte selbst getäuscht. Jedenfalls hatte sie gesündigt – zuweilen kommt das vor – da wurden ihr die Türen ihrer natürlich tief entrüsteten Familie und der Bekannten verschlossen. Allein im Kampf mit der Welt, mit dem Schwergewicht ihrer Schande beladen, war sie immer tiefer gesunken. Eine Zeitlang hatte sie den Unterhalt für sich und das Kind mit dem kargen Lohn einer harten zwölfstündigen Arbeit verdient. Aber sechs Schilling die Woche wollen nicht recht ausreichen, Seele und Leib zusammenzuhalten; sie wollen auseinander, wenn nur ein so schwaches Band sie verbindet; eines Tags muß wohl der Schmerz und das ganze Elend ihrer Lage lebhafter als gewöhnlich ihr vor Augen gestanden und das drohende Gespenst sie erschreckt haben. Noch eine letzte verzweiflungsvolle Bitte hatte sie an die Ihrigen gerichtet; aber an der kalten Mauer ihrer Wohlanständigkeit prallte die Stimme der irrenden Ausgewiesenen ungehört ab; dann war sie zu ihrem Kinde gegangen, hatte es in einer absonderlich müden und dumpfen Stimmung in den Armen gehalten und geküßt; dann hatte sie es verlassen, nachdem sie ihm ein Zehnpfennigbüchschen mit Schokolade, das sie ihm gekauft, ins Händchen gesteckt; hierauf hatte sie mit ihrem letzten Gelde eine Fahrkarte nach Goring gekauft. Es schien, daß die bittersten Erinnerungen ihres Lebens mit den waldigen Hängen und lichtgrünen Wiesen um Goring verknüpft gewesen sein müssen. Aber sonderbar! Die Frauen drücken das Messer, das sie durchbohrt, liebevoll an die Brust, und vielleicht mögen sich zu all den bitteren auch sonnige Erinnerungen von süßen Stunden, die in diesen schattigen Gründen unter den hohen Bäumen verlebt wurden, gedrängt haben. So war sie in dem Gehölze am Flußrand den ganzen Tag umhergewandert; und als nun der Abend kam und das graue Zwielicht sein dämmeriges Gewand über die Wasserfläche ausbreitete, da streckte sie ihre Arme aus nach dem stillen Flusse, der um ihren Kummer und ihre Freude gewußt hatte. Und der alte Fluß hat sie in seinen sanften Arm genommen, ihr müdes Haupt an seine Brust gelegt und allen Schmerz von ihr genommen. So hatte sie gesündigt, im Leben und im Sterben gesündigt! Gott sei ihr gnädig, ihr und allen andern Sündern – sofern es deren noch andere gibt! Goring auf dem linken und Streatley am rechten Ufer sind beides reizende Orte, in denen man sich gern ein paar Tage aufhält. Die Talgründe hinab nach Pangbourne laden einen förmlich ein zu einer Segelfahrt beim hellen Sonnenschein oder zu einer Ruderfahrt beim sanften Mondlicht, denn ringsumher ist die Landschaft wunderbar schön. Wir hatten beabsichtigt, an diesem Tage noch bis Wallingford zu rudern, aber das süße, lächelnde Antlitz des Flusses verlockte uns, noch eine Weile hier zu säumen; wir ließen unser Boot an der Brücke, gingen hinauf nach Streatley und frühstückten im »Ochsen«, worüber Montmorency sehr zufrieden war. Goring ist bei weitem nicht so hübsch zum Verweilen wie Streatley, aber das Städtchen ist in seiner Art auch nicht übel und hat den Vorteil, näher bei der Eisenbahn zu liegen für den Fall, daß man sich aus dem Staube machen möchte, ohne seine Hotelrechnung bezahlt zu haben. * In Streatley blieben wir zwei Tage und ließen unsere Sachen waschen. Wir hatten versucht, sie unter Georgs Oberaufsicht selbst zu waschen, hatten aber dabei Fiasko gemacht. Es war in der Tat ein jämmerliches Fiasko; denn nach der Wäsche waren wir schlimmer daran als zuvor. Ehe wir sie gewaschen hatten, waren unsere Kleider allerdings sehr, sehr schmutzig gewesen, aber man konnte sie doch noch tragen. Aber nachdem wir sie gewaschen hatten – nun um es kurz zu sagen, der Fluß zwischen Reading und Henley war nach unserer Wäsche viel sauberer als zuvor! Allen Schmutz, den das Wasser zwischen diesen beiden Orten enthielt, sammelten und saugten und wirkten wir in unsere Kleider hinein. Die Waschfrau in Streatley sagte, sie sei es sich unbedingt schuldig, das Dreifache des gewöhnlichen Preises für diese Wäsche zu fordern. Sie meinte, das sei keine Wäsche mehr gewesen, sondern schon mehr eine Art Ausgrabung. Wir bezahlten die Rechnung ohne Murren. Die Nachbarschaft von Streatley und Goring ist ein Hauptpunkt fürs Fischen. Es läßt sich hier wirklich ausgezeichnet gut fischen. Der Fluß enthält eine Menge Hechte, Rochen, Weißfische, Gründlinge und Aale, und man kann ganze Tage dasitzen und fischen. Es gibt auch Leute, die das tun. Aber sie fangen niemals Fische! Ich habe die Themse entlang noch niemand kennen gelernt, der etwas anderes fing als Elritzen und tote Katzen; aber das hat doch mit der Fischerei nichts zu schaffen und ist doch nicht der Zweck des Fischens! Auch sagt der »Führer für Fischer auf der Themse« kein Wort über das Fischefangen! Alles, was er sagt, ist: »Die Gegend ist ausgezeichnet zum Fischen geeignet,« und soviel ich von ihr gesehen habe, kann ich diese Mitteilung nur bestätigen. Es gibt gewiß keinen Ort in der Welt, wo man sich besser dem Fischen hingeben, oder wo man länger dabei verweilen möchte. Manche Fischer kommen hierher und fischen einen Tag, andere fischen einen Monat lang. Man kann aber auch ein ganzes Jahr hier mit Fischen verbummeln – das Resultat wird immer dasselbe – nämlich Null sein. Der »Führer für Angler auf der Themse« sagt: »Auch werden dort Fluß- und Kaulbarsche gefangen« – aber da ist der »Führer für Angler« nicht ganz orientiert. Ja, es mag schon Fluß- und Kaulbarsche da herum geben; ich kann sogar mit Bestimmtheit sagen, daß es deren gibt. Man kann sie in ganzen Haufen beisammen sehen, wenn man am Ufer spazieren geht; sie kommen heran, halten sich halb über Wasser und sperren das Maul auf, um etwas Zwieback zu erschnappen. Wenn man dort ein Bad nimmt, so scharen sie sich um einen und belästigen einen. Aber gefangen werden sie nicht, und wenn man auch den schönsten Wurm an seinen Angelhaken hängt; nein, das niemals! – Ich selber will mich keineswegs für einen guten Fischer ausgeben. Es gab eine Zeit, wo ich dieser Sache ziemlich viel Aufmerksamkeit schenkte und ich auch – nach meinem Dafürhalten – ziemlich gute Fortschritte in besagter Kunst machte; aber die alten gewiegten Leute vom Fach sagten mir, ich werde es niemals zu etwas Ordentlichem bringen, und rieten mir, das Handwerk aufzugeben. Sie meinten, im Wurf könnte ich mich schon recht gut sehen lassen, auch fehle es mir beim Fangen durchaus nicht an Grütze, außerdem sei ich mit aller dazu nötigen Faulheit begabt. Aber sie seien überzeugt, ich werde niemals ein richtiger Fischer werden, denn es mangle mir an einem Haupterfordernis – an der Einbildungskraft. Sie meinten, als Dichter, oder Zeitungsschmierer, oder als Reporter, oder irgend etwas dieser Art möchte ich es vielleicht zu etwas bringen; aber um mir unter den Themseanglern einen, wenn auch noch so bescheidenen Ruf zu erwerben, sei ein etwas freieres Spiel der Einbildungskraft, etwas mehr Erfindungsgabe, als mir zu Gebote stehe, erforderlich. Es scheint mir, manche Leute meinen, zu einem guten Fischer gehöre nichts anderes, als mir nichts dir nichts, ohne Erröten recht tüchtig aufzuschneiden; aber das ist grundfalsch. Bloße freche Lügenfabrikation ist nutzlos; jeder Gimpel kann das. Der erfahrene Angler erweist sich als solcher in der anschaulichen Schilderung aller, auch der nebensächlichsten Einzelheiten, in der verschönernden, aber höchst wahrscheinlichen Färbung des Ganzen, in dem durch die ganze Erzählung gehenden Zug von peinlicher, man könnte fast sagen, pedantischer Wahrhaftigkeit. Ein jeder kann hereinkommen und sagen: »O, wißt ihr's schon, ich habe gestern abend fünfzehn Dutzend Barsche gefangen«; oder »Letzten Montag zog ich einen Gründling ans Land, der achtzehn Pfund schwer und vom Kopf bis zum Schwanzende drei Fuß lang war.« Für solche Erzählungen braucht es weder Kunst noch Schlauheit: sie zeugen von Keckheit – das ist aber auch alles. Nein; der »gewiegte Angler« verachtet derartige Lügen. Seine Methode ist an sich schon ein Studium. Er tritt ruhig ein, behält den Hut auf dem Kopfe, eignet sich den bequemsten Stuhl in der Stube an, stopft sich seine Pfeife und fängt in aller Stille an zu paffen. Er läßt die Gelbschnäbel eine Zeitlang renommieren, dann, während einer momantanen Pause in der Unterhaltung nimmt er die Pfeife aus dem Munde und bemerkt, während er sie ausklopft: »Ja, ja! Am Dienstag abend, da galt's zu ziehen! Doch wozu sollte ich die Geschichte erzählen?« »O! Aber warum denn nicht?« fragt alles. »Nun, weil ich nicht erwarten kann, daß mir irgend jemand Glauben schenkt,« erwidert der alte Bursche gelassen und sogar ohne die geringste Bitterkeit im Tone. Dann stopft er sich seine Pfeife von neuem und ersucht den Wirt, ihm ein großes Glas Grog zu bringen. Dann tritt eine Pause ein, denn keiner von den Anwesenden fühlt sich gerieben genug, um dem alten Herrn geradezu zu widersprechen. So muß er denn jetzt ohne weitere Aufmunterung den Faden wieder aufnehmen. »Nein!« fährt er tief nachdenklich fort, »nein, ich würde es selbst nicht glauben, wenn mir's einer erzählte – aber es ist trotz alledem Tatsache. Ich hatte den ganzen Nachmittag dagesessen und buchstäblich nichts gefangen, außer ein Stücker zwanzig Flußbarsche und ein paar Dutzend Weißfische; wie ich nun gerade im Begriff war, das unersprießliche Geschäft aufzugeben, verspürte ich plötzlich einen ungewöhnlich starken Zug an der Angelschnur. Ich dachte zuerst, es sei am Ende wieder einer von den Kleinen und wollte ihn hinauswerfen. Ich will mich hängen lassen, wenn ich imstande war, die Angel zu bewegen! Es brauchte eine gute halbe Stunde, denken Sie, meine Herren, eine halbe Stunde, bis es mir gelang, den Kork ans Land zu ziehen; jeden Augenblick mußte ich befürchten, daß mir die Angelschnur abreiße! Zuletzt aber konnte ich ihn fassen, und was meinen Sie, daß es war? Ein Stör, ein vierzig Pfund schwerer Stör! Gefangen mit der Angel, meine Herren! Ja, Sie mögen sich wohl baß darüber wundern! – Herr Wirt, geben Sie mir noch ein großes Glas Grog.« Dann erzählte er ferner, wie alle diejenigen, die den Fisch gesehen hätten, natürlich riesig erstaunt gewesen seien; ferner, was seine Frau dazu gesagt habe, als er ihn nach Hause gebracht, und was Sepp Buggles davon gehalten habe. In einer Kneipe am Flusse fragte ich einmal den Wirt, ob es ihn nicht manchmal krank mache, alle die erlogenen Geschichten mit anhören zu müssen, welche die Fischer hier herum ihm erzählen, worauf er mir erwiderte: »O nein, mein Herr, jetzt nicht mehr, im Anfang, ja, da wurde mir's hier und da ein bißchen übel; aber wahr und wahrhaftig, ich und meine Frau, wir hören dem Ding jetzt den ganzen Tag lang zu. Wissen Sie, 's ist die Macht der Gewohnheit, ja, die Macht der Gewohnheit!« Ich kannte einst einen jungen Mann, einen höchst gewissenhaften Menschen; er hatte es sich zum Gesetz gemacht, wenn er fischen ging, niemals mehr als fünfundzwanzig Prozent dazuzulügen. »Wenn ich vierzig Fische gefangen habe,« sagte er zu sich selbst, »dann will ich den Leuten sagen, ich hätte fünfzig gefangen, und so fort; mehr als das lüge ich nicht dazu – denn das Lügen ist eine Sünde.« – Aber der Plan mit den fünfundzwanzig Prozent war kein glücklicher Griff. Er kam in seinem Leben nie in die Lage, ihn auszuführen, die größte Anzahl Fische, die er jemals an einem Tage gefangen hatte, waren drei, und man kann doch nicht fünfundzwanzig Prozent von drei berechnen, wenigstens nicht bei Fischen. So erhöhte er denn seinen Prozentsatz auf dreiunddreißig ein Drittel, aber das war wieder ungeschickt, wenn er nur einen oder zwei gefangen hatte. Um aber die Sache zu vereinfachen, beschloß er bei sich, die Anzahl gerade zu verdoppeln. Bei diesem Modus blieb er ein paar Monate lang, aber dann wurde er dessen überdrüssig; denn niemand wollte ihm glauben, daß er die Zahl nur einfach verdoppelte; er erregte daher nirgends die ersehnte Bewunderung; seine Bescheidenheit kam ihm neben den übrigen Anglern sehr übel zu statten. Wenn er wirklich drei Fische gefangen hatte und von sechsen sprach, war es da ein Wunder, daß er ganz eifersüchtig wurde, wenn er nun einen andern, von dem er ganz sicher wußte, daß er einen einzigen gefangen hatte, den Leuten erzählen hörte, er habe deren zwei Dutzend ans Land gezogen? So kam er zuletzt auf folgendes Auskunftsmittel, das er nachmals auch pflichtgetreu anwendete: er zählte jeden einzelnen Fisch für zehn und nahm außerdem zehn als Grundtaxe im voraus an. Z. B. wenn er gar keinen Fisch fing, so rechnete er zehn; weniger als zehn Fische konnte er bei diesem System gar nicht fangen. Das war eine solide Grundlage. Wenn es ihm aber wirklich glückte, einen Fisch zu fangen, so machte das zwanzig; während es bei zwei Fischen dreißig machte, bei dreien vierzig usf. Es ist dies ein sehr einfacher und leicht ausführbarer Plan; man hat daher neulich unter der Anglerbrüderschaft davon gesprochen, ihn allgemein einzuführen. In der Tat hat das Komitee der Angelgesellschaft der Themse die Annahme desselben vor zirka zwei Jahren warm empfohlen; aber einige ältere Mitglieder der Gesellschaft waren ihm abhold. Diese meinten, sie würden den Vorschlag in Betracht ziehen, wenn die Zahl verdoppelt, somit jeder einzelne Fisch für zwanzig gerechnet würde. Wenn ihr jemals auf einer Flußfahrt nicht wißt, wie ihr den Abend zubringen sollt, so würde ich euch raten, in eines der kleinen Dorfwirtshäuser zu gehen, und euch in der Schenkstube niederzulassen. Ihr werdet da sicherlich einen oder zwei solcher alten Fischer antreffen, die hier langsam ihren Grog schlürfen und euch in einer halben Stunde mehr Fischgeschichten zum besten geben, als ihr in einem Monat verdauen könnt. Georg und ich – ich weiß nicht, wo Harris hingekommen war; er war früh am Nachmittag ausgegangen, um sich rasieren zu lassen und hatte, nachdem er zurückgekehrt, volle vierzig Minuten gebraucht, um seine Schuhe mit Tonerde zu reinigen; seither hatten wir ihn nicht mehr gesehen – also Georg und ich und der Hund gingen, uns selbst überlassen, am späten Abend nach Wallingford spazieren und kehrten auf dem Rückweg in einem kleinen Flußwirtshause ein, der Nachtruhe und einiger anderer Dinge wegen. Wir gingen in die Stube und setzten uns nieder. Da war ein bemoostes Haupt, das aus einer langen Tonpfeife rauchte; und mit dem fingen wir natürlich ein Gespräch an. Er erzählte uns, es sei heute ein schöner Tag gewesen, und wir meinten, ja, aber gestern sei es auch schön gewesen; und nun sprachen wir uns gegenseitig darüber aus, daß es morgen vielleicht auch wieder schönes Wetter geben würde, und Georg fügte hinzu, die Saaten schienen in gutem Stande zu stehen. Nachher stellte es sich heraus, daß wir in der Gegend fremd seien und am andern Morgen wieder weiterreisen würden. Dann trat eine Pause in der Unterhaltung ein, während welcher wir unsere Blicke durch das Zimmer wandern ließen. Sie blieben zuletzt an einem staubigen alten Glaskasten haften, der sehr hoch über dem Kaminsims angebracht war und eine Forelle enthielt. Wie gebannt mußte ich nach dieser Forelle hinschauen; es war ein solches Monstrum von einem Fisch! Auf den ersten Anblick hatte ich ihn für einen Stockfisch gehalten. »Ach,« sagte der alte Herr, der Richtung meines Blickes folgend, »nicht wahr, ein wackerer Bursche, was?« – »Etwas ganz Ungewöhnliches,« murmelte ich, und Georg fragte ihn, wie schwer er diesen Fisch schätze? »Achtzehn Pfund und sechs Unzen,« sagte unser Freund, indem er aufstand und seinen Rock vom Nagel herunterholte. »Ja!« fuhr er fort, »es werden am dritten nächsten Monats sechzehn Jahre, daß ich diesen Fisch herauszog. Gerade unterhalb der Brücke habe ich ihn mit einer Elritze erangelt. Man hatte mir gesagt, daß der Fisch im Flusse sei; da schwur ich mir, ihn zu fangen, und ich fing ihn. Ich denke, alleweil werdet ihr hier nicht mehr viel solcher Fische zu sehen kriegen! Gute Nacht, meine Herren, gute Nacht!« Und fort ging er und ließ uns allein. Nach dieser Erzählung konnten wir kein Auge mehr von dem Fische wenden. Es war wirklich ein merkwürdig schöner Fisch! Wir schauten noch immer den Fisch an, als der Landbote, der gerade am Wirtshaus anhielt, mit einer Kanne Bier unter der Tür erschien und den Fisch ebenfalls anschaute. »Stattliche Forelle das, nicht wahr?« sagte Georg, sich gegen ihn wendend. »Das will ich meinen, Herr!« erwiderte der Mann und fügte nach einem Zuge aus seinem Glase hinzu: »Vielleicht waren Sie damals nicht hier, als dieser Fisch gefangen wurde?« »Nein!« sagten wir, »wir waren damals nicht hier. Wir sind fremd in dieser Gegend!« »Dann konnten Sie natürlich nicht dabei sein. Es sind schon an die fünf Jahre her, daß ich diesen Fisch fing.« »Ei! also Sie waren es, der diese Forelle fing?« rief ich aus. »Ja, ja, mein guter Herr!« erwiderte der erfindungsreiche alte Bursche, »ich habe ihn gerade unterhalb der Schleuse gefangen – d. h. was damals die Schleuse war. Es war an einem Freitag abend; und was das Merkwürdigste dabei ist: ich fing ihn mit einer Fliege! Ich war hinausgegangen, um Hechte zu fangen, wissen Sie, dachte nicht im Traum an Forellen, und als ich dann diesen himmellangen Kerl da an meiner Angel sah, ja, ich will des Teufels sein, wenn ich nicht ganz verdutzt zurückprallte! Kein Wunder, hat der Kerl doch sechsundzwanzig Pfund gewogen! – Gute Nacht, meine Herren, gute Nacht!« Fünf Minuten später kam ein dritter Mann herein und erzählte uns, wie er den Fisch eines Morgens früh mit einem Weißfisch gefangen habe; nachdem dieser gegangen, kam ein dumm und feierlich aussehendes Individuum mittleren Alters herein und setzte sich gegen das Fenster hin. Eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort; zuletzt wandte sich Georg gegen den neuen Ankömmling und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr! Ich hoffe, Sie werden es mir nicht übel nehmen, daß wir – ich und mein Freund sind vollständig fremd in dieser Gegend – uns die Freiheit nehmen, Sie zu fragen. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns mitteilen würden, wie Sie diese Forelle hier oben gefangen haben?« »Ja, wer sagt Ihnen denn, daß ich diese Forelle gefangen hätte?« fragte der Mann erstaunt. Wir sagten ihm, daß niemand uns dies mitgeteilt habe, daß wir aber instinktmäßig fühlten, daß er es gewesen sein müsse. »Ja, das ist aber wirklich höchst merkwürdig!« erwiderte nun der dümmliche Fremde lachend, »denn es ist wirklich Tatsache, daß ich den Fisch fing. Aber daß Sie das sogleich geahnt haben! Sollte man so etwas für möglich halten? Es ist doch zu merkwürdig!« Und nun fing er an und erzählte uns, wie er eine volle halbe Stunde damit zugebracht habe, den Fisch herauszuziehen, wie ihm derselbe die Leine zerrissen habe; er habe ihn bei seiner Heimkehr genau gewogen; er sei netto vierunddreißig Pfund schwer gewesen. Auch er nahm bald seinen freundlichen Abgang. Als er fort war, kam der Wirt herein. Wir erzählten ihm die verschiedenen Geschichten, die wir über seine Forelle zu hören bekommen, was ihn ungeheuer belustigte, und wir alle lachten herzlich. »Nein, aber so etwas! Nun stelle man sich vor, daß der Jakob Bates und der Joseph Muggles und Herr Jones und der alte Willy Maunders alle diesen Fisch gefangen haben wollen! Ha, ha, ha! das heiße ich einen Hauptspaß!« sagte der biedere, alte Bursche und fing von neuem zu lachen an. »Ja, ja, die sind gerade die Sorte Leute, die mir einen solchen Fisch geben würden, damit ich ihn in meiner Stube aufhänge, wenn sie ihn gefangen hätten! Ha, ha, ha!« Dann erzählte er uns die wirkliche Geschichte von dem Fisch. Es stellte sich heraus, daß er selbst ihn vor vielen Jahren gefangen hatte, als er noch ein ganz junger Bursche war – nicht vermöge besonderer Kunst oder Geschicklichkeit, sondern infolge eines jener ganz sonderbaren Glückszufälle, die, wie es scheint, immer auf einen Knaben warten, der an einem sonnigen Nachmittag die Schule schwänzt und mit einem an die Gerte gebundenen Stück Schnur das Fischen probiert. Einer weidlichen Tracht Prügel, versicherte er, sei er damals entgangen, weil er diesen Fisch nach Hause gebracht habe, und sogar sein Schulmeister habe gesagt, das sei soviel wert als die Regeldetri und Schönschreiben zusammengenommen. – Hier wurde der Wirt abgerufen, und Georg und ich richteten unsere Augen wieder auf den wunderbaren Fisch. Es war in der Tat die merkwürdigste Forelle der Welt! Je länger wir sie anschauten, desto mehr verwunderten wir uns darüber. – Ihr Anblick nahm Georg so sehr gefangen, daß er zuletzt auf einen Stuhl stieg, um sie genauer betrachten zu können. Da kippte der Stuhl mit ihm um, und Georg griff in der Verzweiflung nach dem Glaskasten, um sich daran zu halten und vor dem Sturz zu bewahren – da fiel derselbe krachend zu Boden – und Georg mitsamt dem Stuhl darüber her. »Du hast doch, um Gottes willen, den Fisch nicht beschädigt?!« rief ich Georg in höchster Besorgnis zu. »Hoffentlich nicht,« sagte Georg, indem er sich langsam und vorsichtig erhob und besorgt um sich schaute. Aber er hatte ihn beschädigt; da lag die Forelle in tausend Stücke zersplittert! Ich sage tausend, es mögen aber vielleicht auch nur neunhundert gewesen sein. Gezählt habe ich sie nicht. Es kam uns gar seltsam und unerklärlich vor, daß eine ausgestopfte Forelle in solch kleine Stücke zerbrechen konnte. – Ja! es würde auch wirklich seltsam und unerklärlich gewesen sein, wenn es eine ausgestopfte Forelle gewesen wäre; aber das war es nicht. Die Forelle war aus Gips! * In Oxford brachten wir zwei sehr angenehme Tage zu. Es gibt da eine Unmasse Hunde. Montmorency hatte schon am ersten Tage elf Gefechte, am zweiten vierzehn, er glaubte offenbar, jetzt sei er im Himmel. Leute, die von Natur zu schwach oder zu faul sind, den Strom hinaufzurudern, machen sich nicht selten das Vergnügen, in Oxford ein Boot zu mieten und stromabwärts zu fahren. Für tatendurstige Leute ist aber die Fahrt stromaufwärts bei weitem vorzuziehen. Immer mit dem Strom zu gehen, soll ja nicht gesund sein. Es ist viel befriedigender, sich in Kampfesstellung gegen den Strom zu stemmen, es einmal tüchtig mit ihm aufzunehmen und trotz all seiner Wucht sich vorwärts zu schaffen; wenigstens ist das mein Gefühl, wenn Harris und Georg rudern und ich am Steuer sitze. – Denen, die von Oxford aus abzufahren gedenken, würde ich raten, sich ein eignes Boot anzuschaffen, den Fall natürlich ausgenommen, daß man ein fremdes wegnehmen kann, ohne das »elfte Gebot« zu übertreten. – Die Boote, die oberhalb Marlow mietweise zu haben sind, sind im allgemeinen gute Boote. Sie sind ordentlich wasserdicht, und wenn man sorglich mit ihnen umgeht, gehen sie auch selten in Stücke und sinken selten unter. Es ist auch Gelegenheit zum Sitzen darin; auch sind sie sonst mit allem oder fast mit allem versehen, was man zum Rudern und Steuern braucht. Aber schön sind sie nicht. Die Boote, die man oberhalb Marlow bekommt, sind nicht von der Art, daß man damit glänzen und Staat machen könnte. Ein zur Fahrt flußaufwärts gemietetes Boot treibt den Insassen in kürzester Frist so kühne Gedanken aus. Das ist seine Haupt-, man könnte fast sagen, einzige Empfehlung. Der Mann, der in einem gemieteten Boote den Fluß hinauffährt, ist bescheiden und zurückhaltend. Er hat eine Vorliebe für die Schattenseite unter den Uferbäumen und besorgt den größten Teil seiner Reise morgens früh oder spät am Abend, wenn nicht viele Leute unterwegs sind, die ihm zusehen könnten. Wenn er jemand zu Gesicht bekommt, den er kennt, so steigt er ans Land und verbirgt sich hinter einem Baum. Ich gehörte einmal zu einer Gesellschaft, die ein Boot zu einer Fahrt stromaufwärts auf einige Tage gemietet hatte. Keiner von uns hatte zuvor ein für die Hinauffahrt gemietetes Boot gesehen, und als wir eins zu Gesicht bekamen, wußte keiner, was es sein sollte. Wir hatten uns das Boot, einen zweirudrigen Kahn, schriftlich bestellt. Als wir nun mit unserm Gepäck bei dem Schiffsvermieter ankamen und unsre Namen nannten, sagte der Mann: »Ganz recht, Sie sind die Gesellschaft, die einen Zweiruderer bestellte. Jawohl, das ist besorgt! Jakob, geh', mach' den ›Stolz der Themse‹ los!« Der Knabe ging und kam fünf Minuten später, mit einer antediluvianischen Holzkruste sich abplackend, wieder zum Vorschein. Das Ding sah aus, als ob es neulich irgendwo unter den Pfahlbauten gefunden, recht unvorsichtig ausgegraben worden und dabei unnötigerweise stark zu Schaden gekommen wäre. Als ich das Ding erblickte, war mein erster Gedanke, daß es eine römische Antike sein müsse, von der ich natürlich nicht wissen konnte, was sie vorstellen sollte – möglicherweise einen Sarg. Die Umgebung der oberen Themse ist reich an römischen Altertümern, daher schien mir meine Vermutung einige Wahrscheinlichkeit für sich zu haben; aber unter uns war ein sehr ernsthafter junger Mann, der etwas von einem Geologen an sich hatte. Der verspottete meine Theorie von der römischen Antike und sagte, es müsse auch dem allergewöhnlichsten Verstande (wozu er den meinigen leider mit gutem Gewissen nicht rechnen zu dürfen glaubte) klar sein, daß das Ding, das der Knabe gefunden, ein versteinerter Walfischknochen sei; ei zeigte uns an verschiedenen Merkmalen, daß das Fossil der der Eiszeit vorhergehenden Periode angehört haben müsse. Um dem Streit ein Ende zu machen, wandten wir uns an den Jungen. Wir sagten ihm, er solle keine Menschenfurcht haben, sondern uns die reine Wahrheit berichten: war das Ding ein versteinertes Stück eines vorsintflutlichen Walfisches oder ein frührömischer Sarg? Der Knabe sagte, es sei der »Stolz der Themse«. Diese Antwort des Knaben kam uns zuerst recht gelungen vor, und einer von uns gab ihm zwei Pence als Belohnung für seinen schnellen Witz. Aber als er den Spaß mehr als uns nötig schien in die Länge zog, ärgerten wir uns über ihn. »Mein guter Junge,« sagte unser Anführer mit Schärfe, »mach' uns nichts weiß. Nimm du nur deiner Mutter Waschzuber wieder heim und schaff' uns ein Boot her.« Der Schiffbauer selbst kam jetzt herzu und versicherte auf sein Wort, das Wort eines praktischen Mannes, daß das Ding wirklich ein Boot sei, ja, daß es das Boot sei, nämlich der zweiruderige Kahn, den er für unsere Stromfahrt ausgewählt habe. Wir brummten und schimpften nicht wenig. Zum mindesten, meinten wir, hätte er es doch anstreichen oder teeren lassen können oder irgend etwas tun sollen, damit es sich von einem Wrack ein bißchen unterschieden hätte! Er aber konnte keinen Fehler daran finden; er schien sogar beleidigt durch unsere Bemerkungen und erklärte, er habe uns das beste Boot aus seinem ganzen Vorrat ausgesucht, wofür wir ihm wohl ein wenig dankbar sein dürften. Der »Stolz der Themse«, sagte er, so wie sie hier vor uns liege (oder vielmehr zusammenhing), habe seit den letzten vierzig Jahren, so viel ihm bekannt sei, gedient, ohne daß sich jemand darüber beklagt habe, und er sehe daher nicht ein, warum wir nun die ersten sein sollten, die damit begännen. Auf solche Gründe konnten wir natürlich nichts mehr erwidern. Wir banden das sogenannte Boot mit Tauen etwas zusammen, verschafften uns etwas Tapetenpapier, verkleisterten die schäbigsten Stellen, sprachen noch ein frommes Gebet zum Himmel und gingen dann an Bord. – Man verlangte von uns fünfunddreißig Schilling für das Überlassen des Wracks auf sechs Tage. Für vier und einen halben Schilling hätten mir das Ding zweimal in einer Auktion von Treibholz an der Küste kaufen können. Am dritten Tage änderte sich das Wetter, nebenbei bemerkt, ich spreche jetzt von unserer gegenwärtigen Reise; wir traten unter beständigem Regen unsere Rückfahrt von Oxford an. Wenn das helle Sonnenlicht von den tanzenden Wellen zurückgeworfen wird, die grünen Buchen glänzend vergoldet, Streiflichter durch die dunklen kühlen Waldwege sendet, Schatten über die Sandbänke hinhuschen, Diamanten von den Mühlrädern niederstäuben läßt, die Lilien am Ufer küßt, am Wehr mit dem weißschäumenden Wasser spielt, alte, moosbewachsene Mauern und Brücken mit silbernem Glanz überflutet, jedes unansehnliche Städtchen verklärt, jede Hecke und jede Wiese lieblich macht, zwischen die Schilfgräser hineindringt, aus jedem einströmenden Bächlein hervorglitzert, hervorlacht, manch fernes Segel in schimmernde heitere Farben taucht, die Luft mit sanfter Glorie erfüllt – ja, dann ist der Fluß ein von goldigem Zauber umwobener Strom. Aber wenn unaufhörlicher Regen auf seine braunen, trägen Fluten herniederfällt, daß es klingt, als ob ein Weib in einer dunklen Kammer leise weinte; wenn die Uferbäume, dunkel und schweigend, in Nebelschleier gehüllt, wie Geister am Wasserrand stehen, wie stille Geister, die vorwurfsvoll ihre Augen auf euch richten, wie die Rächer böser Taten – wie die Geister verratener Freunde, – dann ist der frostig trübe Fluß ein unheimliches, spukhaftes, das Land vergeblicher Reue durchziehendes Gewässer. Ja, das Sonnenlicht ist das Lebensblut der Natur! Die Mutter Erde sieht uns mit so dumpfen, seelenlosen Augen an, wenn das Licht der Sonne von ihr geschieden ist. Es macht uns traurig, allein bei ihr zu verweilen. Sie scheint uns dann nicht mehr zu kennen, die Mutter, nicht für uns zu sorgen. Sie gleicht einer Witwe, die den geliebten Gatten verlor; ihre Kinder berühren ihre Hand, sehen ihr in die Augen, können ihr aber kein Lächeln abgewinnen. Wir ruderten den ganzen Tag lang im Regen dahin; es war ein trauriges Geschäft. Zuerst flunkerten wir uns vor, daß wir uns darüber freuten; es sei doch eine Abwechslung; auch sähen wir den Fluß gerne in all seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Wir könnten mit Grund, sagten wir uns, doch nicht erwarten, immer Sonnenschein zu genießen, noch könnten wir das auch nur wünschen. Wir kamen dahin überein, die Natur sei auch unter Tränen schön. Harris und ich waren in der Tat ganz begeistert, d. h. während der ersten Stunden. Wir sangen ein Lied, welches das Zigeunerleben und seine Herrlichkeiten pries: »Der Sonn', dem Regen, dem Sturm entgegen« – wir sangen, wie der Zigeuner den Regen so gern gehabt, wie gut derselbe ihm bekommen, und wie er die Leute verlacht, die keinen Geschmack daran finden konnten. Georg faßte den Spaß etwas nüchterner auf und hielt sich an den Regenschirm. Wir hißten die Bedeckung auf, ehe wir frühstückten, und behielten sie auch noch den ganzen Nachmittag droben; nur so viel Raum ließen wir am Bug frei, daß einer von uns die kleinen Ruder gebrauchen und Umschau halten konnte. So legten wir an diesem Tag neun Meilen zurück und ankerten etwas unterhalb der Dayschleuse, um zu übernachten. Ehrlich gestanden, könnte ich nicht sagen, daß wir einen lustigen Abend gehabt hätten. Der Regen strömte noch immer mit stiller Hartnäckigkeit herunter. Im Boot war alles feucht und klebrig. Unser Nachtessen war auch nichts Glorreiches. Kalte Kalbspastete ist nicht sehr einladend, wenn man keinen Hunger hat. Mein Magen verlangte nach frisch gebackenem Weißfisch und Koteletten. Harris schwatzte etwas von Schollen in weißer Sauce, während er die Reste seiner Pastete Montmorency verehrte, der sie aber dankend ablehnte. Er war augenscheinlich durch das Anerbieten beleidigt, ging weg und setzte sich an das andere Ende des Bootes. Georg ersuchte uns, über diesen Gegenstand nicht weiter zu sprechen, wenigstens nicht, bis er mit seinem kalten, gesottenen Rindfleisch fertig sei, das er ohne Senf verzehren mußte. Nach dem Abendessen spielten wir Karten, den Point zu zehn Pfennig. Wir spielten ungefähr anderthalb Stunden; am Ende hatte Georg gerade vierzig Pfennig gewonnen. Georg hat immer Glück im Spiel. Wir dachten jetzt, dem Laster des Spiels nicht länger zu frönen; denn es führe, sagte Harris, zu weit getrieben, zu einer ungesunden Aufregung. Georg bot uns Revanche an; aber Harris und ich weigerten uns noch weiter gegen das Schicksal anzukämpfen. Hiernach bereiteten wir uns Toddy (Grog) und setzten uns zu einem Gespräch zusammen. Georg erzählte uns von einem Mann, der vor zwei Jahren den Fluß heraufgefahren und während einer Nacht wie die heutige in einem feuchten Boot geschlafen und davon rheumatisches Fieber bekommen habe; alle ärztlichen Bemühungen seien vergeblich gewesen; zehn Tage nachher sei er unter großen Schmerzen gestorben. Es sei ein noch ganz junger Mann gewesen, setzte Georg hinzu, der demnächst hätte Hochzeit halten sollen. Es sei eine der traurigsten Geschichten gewesen, die ihm je zu Ohren gekommen, schloß Georg seine Erzählung. Das erinnerte Harris an einen Freund, der, unter den Freiwilligen dienend, im Lager zu Aldershot eine Regennacht im Zelt zugebracht habe; es sei eine Nacht gewesen, »gerade wie heute«, sagte Harris; am andern Morgen sei er als ein Krüppel aufgestanden und seitdem Krüppel geblieben. Harris fügte noch hinzu, er wolle uns beide bei dem Mann einführen, wenn wir nach Hause kämen; das Herz werde uns bei seinem Anblick bluten. Dies führte dann zu einer weiteren angenehmen Unterhaltung über Ischias, Fieber, Erkältungen, Lungen- und Halskrankheiten; Harris meinte, es wäre doch recht fatal, wenn einer von uns während der Nacht ernstlich krank würde, da wir so weit von einem Doktor entfernt seien. Es schien nach diesen aufregenden Gesprächen das allgemeine Verlangen nach etwas Erheiterndem vorhanden zu sein; in einem schwachen Augenblick bat ich daher Georg, sein Banjo hervorzuholen und zu versuchen, ob er uns nicht etwas Humoristisches vortragen könne. Ich muß es Georg zu seinem Ruhm nachsagen, daß er sich nicht lange bitten ließ. Er zierte sich nicht, er machte keinen Einwand, wie »er habe seine Noten daheim« usw. Sofort fischte er sein Instrument hervor und fing das Lied »Ein blaues Aug'« zu spielen an. Bis heute abend hatte ich dieses Liedchen immer für ziemlich langweilig gehalten. Aber die reiche Ader von Traurigkeit, die Georg in demselben herauszufinden wußte, machte mich ganz erstaunen. Harris und ich konnten kaum dem Verlangen widerstehen, einander weinend um den Hals zu fallen. Nur mit großer Anstrengung gelang es uns, unsere hervorbrechenden Tränen zurückzuhalten und schweigend der wilden, sehnsuchtsvollen Melodie zu lauschen. Als der Chor einfallen sollte, machten wir sogar einen verzweifelten Versuch, lustig zu sein. Wir füllten nochmals die Gläser und fielen ein. Harris begann den Chorgesang mit vor Rührung zitternder Stimme, während Georg und ich ein paar Takte hinterdrein kamen: »Ein blaues Auge mir zu schlagen, Ist so etwas denn wirklich wahr! Bloß weil ich es gewagt zu sagen: Er sei im Unrecht offenbar. Ein – – « Hier brachen wir zusammen. Das unaussprechliche Pathos von Georgs Begleitung zu dem: »Ein –« waren wir bei unsrem damaligen niedergedrückten Zustand nicht länger zu ertragen fähig. Harris schluchzte wie ein kleines Kind und der Hund heulte so sehr, daß ich jeden Augenblick befürchtete, sein Herz oder sein Kiefer möchte brechen! Georg wollte noch einen weiteren Vers singen. Er glaubte, wenn er erst die Melodie loshabe und sie etwas freier und leichter vortragen könne, so möchte es wohl weniger traurig klingen. Aber die Gefühle der Majorität widersetzten sich diesem Vorhaben. Da uns nun nichts weiter zu tun übrig blieb, so gingen wir zu Bett – d. h. wir entkleideten uns und warfen uns nachher auf dem Boden des Bootes drei oder vier Stunden lang hin und her, worauf wir dann noch ein paar Stunden, bis ungefähr fünf Uhr, schliefen; hierauf standen wir auf und frühstückten. Der zweite Tag glich dem ersten aufs Haar. Es fuhr fort zu regnen; wir saßen, in unsere wasserdichten Mäntel eingewickelt, unter unserer Leinwanddecke und trieben langsam den Fluß hinab. Einer von uns – ich vergaß, wer es war; aber ich glaube beinahe, ich war es selbst – machte ein paar schwache Versuche, wieder die alte Zigeunerlustigkeit wachzurufen, als freuten wir uns wie freie Kinder der Natur über die Nässe – aber es wollte nicht ganz gelingen. In der Tat, dieses: »Was geht mich doch der Regen an« usw. war ja so offenbar der Ausdruck unserer Gefühle, daß es höchst überflüssig schien, dies auch noch zu singen. Über einen Punkt waren wir alle einig, daß wir nämlich, es möge kommen, was da wolle, den Spaß bis zu seinem bittern Ende durchkosten wollten. Wir hatten uns zu einem vierzehntägigen Vergnügen auf dem Flusse aufgemacht, das wollten wir somit auch haben, und wenn wir drauf gehen sollten! Das wäre zwar für unsere Freunde und Verwandten sehr traurig gewesen, aber zu ändern wäre das nun einmal nicht. Wir fühlten, es wäre ein mehr als schlechtes Beispiel, wenn wir in einem Klima wie dem unsrigen dem Wetter weichen wollten. »Es gilt nur noch zwei weitere Tage auszuhalten,« sagte Harris, »und wir sind ja jung und kräftig. Vielleicht können wir es doch durchmachen.« Ungefähr um vier Uhr nachmittags begannen wir zu beraten, wie wir uns diesen Abend einrichten wollten. Wir waren etwas über Goring hinaus, und hatten beschlossen, noch bis Pangbourne zu rudern und dort zu übernachten. »Wird wieder ein schöner Abend werden,« brummte Georg. Wir saßen da und dachten über unsere Aussichten nach. Um fünf Uhr konnten wir in Pangbourne sein. Unsere Mahlzeit konnte etwa um halb sieben beendet sein. Dann konnten wir unter strömendem Regen einen Spaziergang im Dorf herum machen, bis es Zeit zum Schlafengehen wäre. Oder wir konnten uns auch in eine matterleuchtete Wirtsstube setzen und den Kalender lesen! »Da wäre es in der Alhambra[Fußnote: Elegantes, namentlich für pantomimische Aufführungen berühmtes Theater in London.] beinahe amüsanter,« sagte Harris, indem er einen Augenblick seinen Kopf hinaussteckte, um den Himmel auszukundschaften. – »Mit einem kleinen Souper in –[Fußnote: Ein kapitales kleines Restaurant, etwas abseits, in der Nähe von –, wo man ein vorzügliches und billiges kleines französisches Diner oder Souper bekommt, mit einer ausgezeichneten Flasche Beaune für drei und einen halben Schilling – dessen Namen ich aber nicht so dumm bin, in die Welt hinauszuposaunen.] nicht wahr?« fügte ich fast unbewußt hinzu. »Ja, es ist schade, daß wir uns in den Kopf gesetzt haben, uns diesem Boot zu verschreiben,« antwortete Harris; dann war eine Zeitlang alles still. »Wenn wir uns nicht in den Kopf gesetzt hätten unsern gewissen Tod in diesem verwünschten alten Sarg zu holen,« brummte Georg, indem er noch einen Blick voll unsäglichen Abscheus auf das unglückliche Boot warf, »so dürfte vielleicht die Mitteilung erlaubt sein, daß bald nach fünf Uhr noch ein Zug von Pangbourne abgeht, der, wie ich weiß, uns so zeitig nach Hause brächte, daß wir bequem ein Kotelett verzehren und dann den Ort besuchen könnten, den du vorhin genannt hast.« – Keiner sprach ein Wort. Wir schauten einander an, und jeder glaubte, seine eigenen sündlichen, niederträchtigen Gedanken auf dem Antlitz des anderen zu lesen. Schweigend nahmen wir unsren Gladstone zur Hand. Wir schauten den Fluß hinauf und hinab; weit und breit war keine Seele zu sehen! Zwanzig Minuten später hätte man drei Personen, gefolgt von einem schamrot dreinschauenden Hunde, sehen können, wie sie sich verstohlenerweise von dem Bootshause zum »Schwan« nach dem Bahnhof schlichen in dem nachfolgend beschriebenen, weder sauberen, noch farbenprächtigen Aufzug: schwarze Lederschuhe, schmutzig, flanellenes Bootkostüm, sehr schmutzig, brauner Filzhut, sehr defekt, Regenmantel, pudelnaß, Schirm. Den Bootsmann in Pangbourne hatten wir angeschwindelt. Wir hatten nicht das Herz gehabt, ihm zu gestehen, daß wir vor dem Regen auskniffen! Das Boot und alles, was es enthielt, hatten wir seiner Hut übergeben, mit der Weisung, daß es am andern Morgen um neun Uhr für uns bereit sein solle. Wenn, hatten wir ihm gesagt, wenn etwas Unvorhergesehenes dazwischenkäme, würden wir ihm schreiben! Wir erreichten den Paddington-Bahnhof[Fußnote: Großer Bahnhof im Westen Londons.] um sieben Uhr und fuhren direkt nach dem vorhin erwähnten Restaurant, nahmen dort ein leichtes Mahl ein, ließen Montmorency mit einer Bestellung für ein richtiges Souper auf halb elf Uhr zurück und setzten dann unsern Weg nach dem Leicesterplatz fort. In der Ahambra zogen wir die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns! Als wir an der Kasse aufmarschierten, hieß man uns ganz grob, nach der Schloßstraße gehen, wir seien eine halbe Stunde zu spät gekommen. Mit einiger Schwierigkeit gelang es uns schließlich, den Mann zu überzeugen, daß wir nicht die weltberühmten »Schlangenmenschen vom Himalaja« seien; er nahm unser Geld und ließ uns eintreten. Drinnen wartete unser ein noch viel größerer Erfolg. Unsern edlen, sonnverbrannten Gesichtern und unserer malerischen Tracht folgte man allerorten mit bewundernden Blicken. Jedes Auge war bezaubert. Es war ein stolzer Moment für uns alle! Bald nach dem ersten Ballett machten wir uns indessen aus dem Staube und lenkten unsere Schritte zurück nach dem Restaurant, wo bereits das Souper unser wartete. – Ich muß bekennen, daß mir dieses Souper baß behagte. – Ungefähr zehn Tage lang hatten wir mehr oder weniger von kaltem Fleisch, Kuchen, Brot und Eingemachtem gelebt. Es war eine einfache, eine nahrhafte Kost gewesen; aber pikant hätte man sie nicht nennen können; und der Duft des Burgunders, der Geruch französischer Saucen und der Anblick reiner Servietten und langer Brotlaibe, alles das kam unsrem innern Menschen als willkommener Gast entgegen. Eine Zeitlang hieben wir ein und zechten schweigend, bis wir endlich, anstatt aufrecht zu sitzen und Gabel und Messer fest zu handhaben, uns zurücklehnten, nur noch langsam und nachlässig arbeiteten, die Beine behaglich unter den Tisch ausstreckten, die Serviette unbeachtet unter den Tisch fallen ließen, zum erstenmal den rauchgeschwärzten Plafond etwas genauer untersuchten als bisher, die Gläser auf Armslänge von uns entfernt auf den Tisch stellten und uns so gut, so voll tiefer Gedanken, so mild vergebend erschienen. Da zog Harris, der dem Fenster zunächst sah, den Vorhang etwas beiseite und schaute auf die Straße hinaus. Sie glitzerte trüb vor Nässe. Die düstern Lampen flackerten bei jedem Windstoß. Der Regen patschte noch immer standhaft in die Pfützen hernieder, und die Dachrinnen entleerten ihren Inhalt in die Dohlen. Einige völlig eingeweichte Wanderer eilten vorüber, sich unter ihre Regenschirme duckend, und die Frauen hielten ihre Kleider in die Höhe. »Ich muß gestehen,« sprach Harris, indem er die Hand nach seinem Glas ausstreckte, »daß wir eine angenehme Fahrt gehabt haben; ich sage daher dem alten Vater Themse meinen herzlichen Dank dafür; aber ich denke, wir haben wohl daran getan, auszureißen und ihm eine Nase zu drehen! – Ich trinke auf das Wohl der ›Drei Mann glücklich aus dem Boot‹!« Montmorency, der am Fenster auf den Hinterbeinen stand und in die Nacht hinausschaute, stimmte mit einem kurzen Gebell in den Trinkspruch ein. * Ende